Rudolf Scharping: „China nicht mit Russland gleichsetzen”

Rudolf Scharping: "Der erhobene Zeigefinger ist immer ein Zeichen von Arroganz."

Der ehemalige Verteidigungsminister kritisiert den europäischen Blick auf Zeitenwende und Globalisierung. Zudem warnt er die Bundesregierung vor erhobenen Zeigefingern.

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Herr Scharping, nach Ihrer Kindheit im Nachkrieg, nach der Deutschen Einheit, nach dem 11. September 2001 erleben Sie persönlich die vierte Zeitenwende. Haben wir schon verstanden, was dieser Einschnitt bedeutet?

Hoffentlich. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert die ganze Welt heraus, nicht alleine uns in Europa oder im „Westen“. Die Grundlagen von Freiheit, Demokratie und Wohlstand, internationale Zusammenarbeit, globale Ernährung, Lieferketten – einfach alles. Im globalen Süden oder Osten wird gedacht: Das ist ein Krieg in Europa, das müssen die dort lösen. Wir müssen unseren Blick weiten, unbedingt.

Welcher Aspekt kommt Ihnen bisher zu kurz?

Mit dem Ende des Kalten Krieges dachten manche, die Geschichte sei an ein Ende gekommen, der Westen habe gesiegt. Da ist vieles falsch gelaufen, was uns heute auf die Füße fällt. Das, wofür die demokratischen Staaten stehen, wurde diskreditiert – man muss nur denken an den Irak, Afghanistan und Libyen. Jetzt droht eine neue Block-Konfrontation. Dem entgehen wir nur, wenn wir die Fragen des Lebens und Überlebens auf diesem kleinen Planeten ins Zentrum rücken. Die Menschheit hat gerade die Schwelle von acht Milliarden Menschen überschritten, was in Europa kaum jemand thematisiert. Ich will dafür nur mal auf Afrika schauen: Zur Zeit des Kaiserreichs lebten in allen afrikanischen Staaten südlich der Sahara in etwa so viele Menschen wie in Deutschland – damals rund 85 Millionen. Demnächst werden dort 2,5 Milliarden Menschen leben. Allein Nigeria wird in nicht allzu ferner Zeit die Bevölkerungszahl der USA übertreffen. Das macht die Herausforderungen jenseits dieses fürchterlichen Krieges deutlich.

Trotzdem noch einmal zum Ukraine-Krieg: Ist Putins Russland nicht jetzt schon in gewisser Weise Geschichte?

Jedenfalls sollten imperiale Eroberungskriege ein schreckliches Erbe der Vergangenheit bleiben. Deswegen ist es sehr richtig, alles zu tun, dass Putin nicht gewinnt. Andererseits wäre es gut, mal wieder an umfassende Politik zu denken, also mehr als an Waffenlieferungen. Ein Hinweis: Die Prinzipien von territorialer Integrität, nationaler Souveränität oder der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten wurden erstmals von Indien und China formuliert und danach von den Vereinten Nationen übernommen, vor 65 Jahren. Das ist keine westliche Erfindung oder Ordnung.

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Scharping fordert statt Verbotskultur mehr Pragmatismus

Wie nehmen Sie unsere Debatten um die Energieversorgung und um Wohlstandsverzicht wahr? Sind die westlichen Gesellschaften resilient genug für solche Krisen, wie wir sie aktuell erleben?

Wir laufen akute Gefahr, die Bandbreite unserer Möglichkeiten zu limitieren. Sie können das sehr gut sehen am Beispiel Klimawandel und Energiepolitik sehen. Wir beengen unsere Möglichkeiten durch eine Regulierungswut und eine Verbotskultur, die uns am Ende des Tages technisch zurückfallen lässt. Unterdessen haben China und die USA die bis dato umfangreichsten Verträge über die Lieferung von Flüssiggas abgeschlossen. Dieser Vertrag wird noch von einer Vereinbarung übertroffen, die gerade China und Katar unterzeichnet haben. Warum redet da kaum jemand drüber? Wir dagegen agieren nur kurzfristig und schließen bestimmte Technologien und Innovationen aus. Das wird uns weltweite Bedeutung und europäischen Wohlstand kosten.

Sehen Sie, dass wir uns ausreichend auf den Tag vorbereiten, wenn in Washington wieder ein Republikaner regieren wird?

Zu wenig. Stand heute ist Europa nicht der globale Akteur, der es sein muss, wenn Europa seine Interessen ernst nimmt. Um das zu verdeutlichen: Ohne die militärische Zusammenarbeit mit den USA können wir heute unsere eigene Freiheit nicht schützen. Wir müssen uns zur Wahrnehmung unserer Interessen deutlich besser wappnen – sicherheitspolitisch und außenpolitisch, technologisch und durch faire Verträge auch mit den USA. Die USA machen sonst noch mehr knallharte Standortpolitik. 

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Als Sie vor 20 Jahren Verteidigungsminister waren, begann bereits der Prozess, dass wir die Bundeswehr heruntergespart haben. Hand aufs Herz: War das schon damals ein Fehler?

Einspruch: Das begann 1990 mit der sogenannten Friedensdividende. Zu meiner Zeit haben Parlamentarier der Grünen und auch der SPD versucht, die Bundeswehr dramatisch zu verkleinern. Dagegen habe ich mich damals zur Wehr gesetzt. 2011 aber wurde die Wehrpflicht praktisch abgeschafft. Damals sind nicht nur in der Sicherheitspolitik, sondern auch in der Energiepolitik die Weichen falsch gestellt worden. Wir sind aus Kohle und Atomenergie zugleich ausgestiegen, ohne einen richtigen Plan zu entwickeln, welche Voraussetzungen wir für unsere Energieversorgung schaffen müssen. Das war im Grunde genommen keine Politik. Ziele ohne einen Plan zu verfolgen, so verhalten sich Ideologen oder kleine Kinder.

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Seit Sie aus der Politik ausgestiegen sind, haben Sie zahlreichen Unternehmen beim Markteintritt in China geholfen. Ist Ihr Geschäftsmodell am Ende?

Nein, der Bedarf an kluger und langfristig orientierter Beratung wächst eher. Wir sollten uns über eines klar sein: Wenn wir uns abkehren sollten von weltweiten Entwicklungen und China den Rücken kehren wollten, wird das Deutschland und Europa nicht guttun. Schauen Sie nur, in welcher Geschwindigkeit China autonomes Fahren entwickelt, die Batterieproduktion hochfährt, die Wasserstofftechnologie entwickelt. Wir müssen selbst schneller und risikofreudiger werden, auch breiter aufgestellt und widerstandsfähiger, statt die Zusammenarbeit mit China kappen zu wollen

Dass die extreme Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China industriepolitisch und auch sicherheitspolitisch ein Problem ist, müssen doch auch Sie sehen?

Na klar, es gibt diese Abhängigkeiten. Die sind aber auch gegenseitig. Das ist die Natur der weltweiten Arbeitsteilung. Die Abhängigkeit der USA, die für 160 Milliarden Dollar jährlich Waren nach China ausführen, aber für 500 Milliarden Dollar einführen, ist deutlich größer. Aber natürlich müssen wir unsere Lieferketten für strategisch relevante Produkte diversifizieren, um uns unabhängiger zu machen.

Teilen Sie denn die wertegebundene Außenpolitik, die sich die Regierung Scholz vorgenommen hat? 

Ja, in Demokratien ist es gar nicht möglich, Haltungen von den Interessen zu trennen, die man verfolgt. Die Kunst besteht darin, Werte und Interessen klug zu verknüpfen. Starke Worte ersetzen ja nicht kluge Politik, im Gegenteil. Der erhobene Zeigefinger ist immer ein Zeichen von Arroganz. Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland haben derweil mit China und den Asean-Staaten die größte Freihandelszone der Welt geschaffen. Außerdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob Deutschland und Europa im Umgang mit autoritären Systemen immer die gleichen Maßstäbe anlegen, wenn ich zum Beispiel nach Ägypten und Saudi-Arabien schaue.

Der China-Experte kritisiert ein mangelhaftes Verständnis von China

Aber deuten die gegenwärtigen Proteste in China nicht auf eine ähnliche Entwicklung hin wie im Iran? Können Sie nicht die Debatte nachvollziehen, dass wir uns bei Xi genauso täuschen könnten wie bei Putin?

Bis Ende 2021 hatte die Bevölkerung in China Verständnis für die „Null-Covid-Politik”. Das hat sich mit den harten Lockdowns und den persönlichen und wirtschaftlichen Folgen grundlegend geändert. Es ist sehr viel Druck, auch Wut im Kessel. Das sucht und findet seinen Ausdruck. Aber so massenhaft wie im Iran ist das jetzt nicht. Die Gleichsetzung Chinas mit Russland ist unhistorisch, wirtschaftlich und kulturell uninformiert und könnte am Ende den Blick auf die eigentliche Herausforderung verstellen. Zwei Hinweise: China verfolgt seine Interessen, ist nach 20 Jahren erstaunlicher Entwicklung jetzt für rund 120 Staaten der größte Handelspartner und tritt nicht auf mit einem missionarischen Eifer. Und: China will nie wieder Spielball von Mächten werden. Wir können an einem wirtschaftlich scheiternden, politisch aggressiven China kein Interesse haben. Die USA sind da insgesamt pragmatischer, obwohl sie im Wettbewerb mit China ganz andere Konflikte auszutragen haben.