Missbrauchsstudie: „Verharmlosen, Verschweigen, Vortäuschen“

Eine Studie hat sexuelle Übergriffe im Bistum Mainz untersucht. Mit früheren Bischöfen und Verantwortlichen der katholischen Kirche gehen die Autoren hart ins Gericht.
Mainz. Frühere Bischöfe und Verantwortliche des Bistums Mainz haben im Umgang mit Fällen sexueller Gewalt über Jahrzehnte schwere Fehler gemacht. Zu diesem Schluss kommt eine am Freitag vorgestellte, unabhängige Studie des Regensburger Rechtsanwalts Ulrich Weber. Die Verantwortlichen hätten bei der Aufarbeitung versagt, die Kirche habe dadurch den Missbrauch begünstigt. Die Vorwürfe richten sich auch gegen den früheren Mainzer Bischof und Kardinal Karl Lehmann (1982 bis 2016). Erst in der Amtszeit des heutigen Bischofs Peter Kohlgraf (seit 2017) sei der Wille zur Aufklärung klar erkennbar. Die Studie spricht von 181 Beschuldigten und 401 Betroffenen im Bistum seit 1945, bei denen die Vorwürfe nach Prüfung sehr plausibel seien.
Bischof Kohlgraf sprach in einer ersten Stellungnahme am Nachmittag von „erschreckenden Ergebnissen” und „Verbrechen”: „Ein ganzes System hat versagt.” Die Taten und Vergehen gehörten „genauso wie das Wegsehen und die Unfähigkeit, Betroffenen Gehör und Glauben zu schenken, zur Geschichte des Bistums Mainz”, sagte er. Und in Richtung seiner Vorgänger: „So wichtig ihre Verdienste in vielen Bereichen waren, so unmissverständlich haben wir auch gehört: Ihnen war der Schutz von Tätern und Kirche wichtiger als die Not von Betroffenen, auch wenn es in der Amtszeit von Kardinal Lehmann unterschiedliche Phasen des Umgangs gibt.”
Hier sehen Sie die Aufzeichnung von Bischof Kohlgrafs Stellungnahme:
Studie suchte auch nach bislang unbekannten Fällen
Die Diözese hatte 2019 den Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber beauftragt, als unabhängiger Ermittler Missbrauchsfälle seit 1945 im Bistum Mainz aufzuklären. Die Studie trägt den Titel „Erfahren. Verstehen. Vorsorgen” (EVV). Weber hatte zuvor auch die Fälle körperlicher und sexueller Gewalt bei den Regensburger Domspatzen untersucht. Ziele der Mainzer Studie waren es herauszufinden, ob es Strukturen im Bistum gab, die die Ausübung sexualisierter Gewalt befördert (oder nicht verhindert) haben, wie mit den Fällen umgegangen wurde, und ob es von 1945 bis heute bisher unbekannte Fälle gab.
Für die statistische Analyse wurden ab 1945 insgesamt 392 Beschuldigte und 657 Betroffene erfasst. Nach „Prüfung von Verantwortung, Tatbestand und Plausibilität“ seien für die weitere Untersuchung 181 Beschuldigte und 401 Betroffene verblieben. Fast alle davon sind männlich (96 Prozent), 118 Beschuldigte (65 Prozent) sind Kleriker, 63 Laien. Bei 54 Prozent wurden von einem Betroffenen Vorwürfe erhoben, bei 46 Prozent von mehreren. Der überwiegende Teil (81 Prozent) seien Mehrfachtaten. Das Spektrum erstrecke sich „von einer sexualbezogenen Grenzverletzung bis zu einer besonders schweren sexualbezogenen Straftat“.
Von den 181 Beschuldigten sei es bei 81 zu einer Strafanzeige gekommen, daraus seien 27 Strafverfahren gefolgt. Es seien acht Haftstrafen verhängt worden, davon nur eine für einen Diözesanpriester. Bei 30 Prozent der Beschuldigten sei ein kirchenstrafrechtliches Verfahren durchgeführt worden.
Betroffene seien zu 59 Prozent männlich und zu 41 Prozent weiblich; 61 Vorfälle seien im Umfeld einer Pfarrgemeinde geschehen - oft bei Freizeiten sowie im Pfarrhaus und im privaten Kontext. Der zeitliche Schwerpunkt (54 Prozent) liege zwischen 1960 und 1989. Die Betroffenen seien zwischen drei und 62 Jahre alt, ein Altersschwerpunkt liege im Kommunionalter bei zehn Jahren. Ein weiterer bei Jugendlichen mit 14 und 15 Jahren. Die Hälfte der Betroffenen sei Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat geworden.
Die Taten erstrecken sich über die Amtszeiten aller Mainzer Bischöfe nach dem Krieg; ein Schwerpunkt, rund ein Drittel, sei der Zeit von Bischof Hermann Volk (1962 bis 1982) zuzuordnen. Verantwortlich für den Umgang eines Bistums mit sexuellem Missbrauch sei der jeweilige Bischof - er werde vom Generalvikar unterstützt, der damit ebenfalls Gesamtverantwortung trage. Auch mit den einzelnen Bischofszeiten hat sich die Studie beschäftigt. Sie kommt in großen Teilen zu dem Schluss, dass auch auf höchster Ebene des Bistums schweres Fehlverhalten bis hin zum Versagen im Umgang mit Missbrauchsfällen vorliegt. Bei 48 Beschuldigten sei ein Versagen von Personalverantwortlichen festgestellt worden. Laut Weber habe die Kirche auf vielen Ebenen sexuellen Missbrauch begünstigt, das Bistum Mainz als verantwortliche Institution durch „unangemessenen Umgang und mangelnde Kontrolle“. Bestehende Normen seien ignoriert, Sanktionen nicht umgesetzt worden.
Studie geht auch mit Kardinal Lehmann hart ins Gericht
Die Amtszeiten der verschiedenen Bischöfe hat die Studie in unterschiedliche Phasen unterteilt, die von Kardinal Karl Lehmann auch aufgrund der langen Dauer in mehrere Phasen. Bei Bischof Albert Stohr (1945 bis 1961) spricht Anwalt Weber von „Ermahnen und Versetzen“ - die Vermeidung des Skandals sei oberste Prämisse im Umgang mit Vorwürfen. Die Zeit von Bischof Hermann Volk (1962 bis 1982) sei von „Verharmlosen und Verschweigen“ geprägt gewesen, Volk habe „keinerlei Interesse und Problembewusstsein“ gezeigt.
Auch mit dem über die Grenzen des Bistums hinaus bekannten und beliebten Bischof Karl Lehmann (1983 bis 2016), lange Zeit auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, geht die Studie hart ins Gericht. In einer ersten Phase (noch bis 2001) sei das Verhalten der Verantwortlichen von „Abwehren und Vortäuschen“ geprägt gewesen, Wahrheiten seien „zurückgehalten, verzerrt oder falsch dargestellt“ worden. In der zweiten Phase Lehmann (2002 bis 2009) sei es dann um „Herausreden und Verteidigen“ gegangen, das Bemühen um Aufklärung sei bei medialem Druck hoch gewesen, bei fehlender Öffentlichkeit aber gering. Erst in der letzten Lehmann-Phase (2010 bis 2016) sei ein Aufklärungsbemühen erkennbar. Der Umgang mit Betroffenen werde grundsätzlich positiv wahrgenommen, entspreche aber nicht den Vorgaben der Leitlinien der Bischofskonferenz. Lehmann habe den Umgang mit Missbrauchsfällen nie als „Chefsache“ angesehen.
Besserung erst unter Bischof Kohlgraf
Eine neue Dynamik habe es dann erst mit der Amtszeit des neuen Bischofs Peter Kohlgraf gegeben (ab 2017). Die Kontaktaufnahmen von Betroffenen seien sehr ernst genommen worden, der Umgang mit Beschuldigten sei sehr konsequent. Die Studie hat diese Phase unter Kohlgraf mit „Lernen und Aufarbeiten“ überschrieben. Erste Schritte zur Aufarbeitung seien bereits eingeleitet, denen nach Veröffentlichung der Studie nun weitere folgen müssten.
Hier können Sie sich die Pressekonferenz vollständig ansehen.
Anwalt Weber hatte im Oktober 2020 einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Schon damals hatte sich abgezeichnet, dass es in dem Bistum weitaus mehr Beschuldigte und Betroffene sexueller Gewalt gegeben hat als aus der sogenannten „MHG-Studie” bekannt. Mit dieser hatte die katholische Kirche in Deutschland, nachdem der Missbrauchsskandal 2010 ins Rollen gekommen war, die Fälle bundesweit untersuchen lassen. Bei Webers Zwischenbericht für das Bistum Mainz war dann von 273 Beschuldigten und 422 Betroffenen die Rede. Bischof Peter Kohlgraf, der seit 2017 im Amt ist, sprach damals von einem „schrecklichen Abgrund”.
Bistum Mainz kündigt Pressekonferenz für 8. März an
Eine Besonderheit der Mainzer Studie ist, dass es sich nicht um eine reine Aktenauswertung handelt. Auch daraus ergibt sich eine höhere Zahl von Fällen, Tätern und Opfern. Rechtsanwalt Weber führte auch viele Gespräche mit Betroffenen und Menschen, die Informationen zu Fällen sexualisierter Gewalt haben. Zudem wurden nicht nur Vorwürfe gegen Geistliche untersucht, sondern auch gegen andere Beschäftigte und ehrenamtlich Tätigen. Das Bistum hatte nun bereits im Vorfeld des Abschlussberichts angekündigt, dass sich die Leitung und Bischof Kohlgraf erst nach einigen Tagen und nach Lesen des Textes ausführlicher dazu äußern werden, im Rahmen einer Pressekonferenz am Mittwoch, 8. März. Die Pressekonferenz am Freitagvormittag verfolgten Kohlgraf, Generalvikar Udo Bentz und die Bevollmächtigte Stephanie Rieth, zuständig für Aufarbeitung im Bistum, in der ersten Reihe der Zuhörer, äußerten sich aber zunächst nicht - am Nachmittag meldete sich Kohlgraf dann, ebenfalls wie angekündigt, mit einem Statement.