Das Missbrauchsgutachten in der katholischen Kirche treibt auch Hessens Europaministerin Lucia Puttrich um. Im Gastbeitrag fordert sie weitreichende Konsequenzen für "ihre"...
HESSEN. Lucia Puttrich (60) gehört zu den CDU-Politikerinnen, die noch wissen, wofür das C im Namen ihrer Partei steht. Die hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten hadert allerdings so sehr mit der Unfähigkeit der katholischen Kirche, sich zu erneuern und den Missbrauchsskandal überzeugend aufzuarbeiten, dass sie sich ihren Frust von der Seele schreiben musste. In ihrem Gastbeitrag für die Zeitungen der VRM fordert sie die christlichen Kirchen auf, sich völlig neu zu sortieren und den deutschen Sonderweg der Staatsfinanzierungen und der der Steuerhebung durch den Staat von sich aus aufzugeben.
Lucia Puttrich: Was ist mit „meiner“ Kirche los?
Ich bin auf dem Land, in der katholischen Diaspora aufgewachsen. Genauer gesagt in Oberhessen, einer Gegend mit wunderschönen Wäldern, landwirtschaftlichen und mittelständischen industriellen Betrieben und natürlich viel Natur. Kurzum: Die Welt meiner Kindheit war in Ordnung. An die Kirche habe ich nur gute Erinnerungen. Die Gruppenstunde für Kinder, die Erstkommunion, die Gottesdienste, Firmung, Taufen und natürlich die Oster- und Weihnachtsmessen. Später habe mit meinen Töchtern vor dem Schlafengehen gebetet, wie ich es von zu Hause her kannte. Der katholische Glaube hat mir und meiner Familie Geborgenheit und Werte geschenkt und ist ein wichtiger Teil meiner Identität – auch als Politikerin.
Wenn ich jedoch heute an die katholische Kirche denke, habe ich gemischte Gefühle. Einerseits sind da die Skandale, der beschämende jahrzehntelange Missbrauch und die spürbare Entfremdung kirchlicher Institutionen von ihren Gemeindemitgliedern. Andererseits erlebe ich Persönlichkeiten auf weltkirchlicher Ebene und in Deutschland, die sich über Jahrzehnte für die Aufklärung der Skandale und für Reformen einsetzen. Die jüngsten Enthüllungen lassen meine Zweifel wachsen. Ist unsere Kirche überhaupt noch reformierbar? Warum gibt es so dicke Mauern des Schweigens, wenn es um Aufklärung und so viel Gegenwehr, wenn es um Reformen geht? Eine häufige Antwort hierauf: der Zeitgeist ist flüchtig, die Kirche beständig. Doch schließt dies Reformfähigkeit gänzlich aus?
Das Priestertum der Frau, die Abschaffung des Zölibats oder die Änderung der Sexualmoral sind Reformforderungen, über die auf dem Synodalen Weg seit langem und mit Leidenschaft, allerdings bisher ergebnislos, gerungen wird. Ich bin keine Theologin. Ich maße mir keine Antwort darauf an, ob dies die richtigen Antworten auf den dramatischen Schwund des Glaubens in unserer Gesellschaft sind. Aber, ich möchte meinen Unmut und meine tiefe Enttäuschung über den aktuellen Zustand meiner Kirche zum Ausdruck bringen. Ich möchte keine schweigende Gläubige sein. Kirche sind wir alle und deshalb begehre ich auf. Ich glaube daran, dass erst durch das Handeln Worte zu Werten werden und diese Werte fordere ich ein. Wo bleibt die Reue und Buße der Täter und wo bleiben die Brandmauern, die neues Unrecht verhindern? Warum gelingt es einer Kirche, die ihrem Selbstverständnis nach auf ständige Erneuerung „Ecclesia semper reformanda“ angelegt ist, nicht, die eigene Fehlbarkeit zu akzeptieren und diese zu korrigieren?
Ich bange um die Zukunft meiner Kirche und ich glaube kaum noch daran, dass die handelnden Vertreter reformfähig bzw. reformwillig sind. Sie wirken behäbig und selbstgefällig und mit dieser Einschätzung bin ich nicht allein. In den letzten 30 Jahren hat die katholische Kirche rund 6 Millionen Mitglieder in Deutschland verloren. Wie aber will; wie kann eine so angeschlagene Kirche überhaupt wieder begeistern? Wann sehe ich wieder junge Familien im Gottesdienst?
Für mich kann dies nur durch mutige Reformen auf verschiedenen Ebenen gelingen. Das deutsche System der Eigenfinanzierung der Kirchen ist zum Beispiel weltweit einzigartig. Der Staat zieht – gegen Entgelt – mit der Einkommensteuer die Kirchensteuer ein und zahlt darüber hinaus weitere Staatsleistungen an die Kirchen. Dieses System führt zu einzigartigen Einnahmen bei den Kirchen – trotz millionenfacher Verluste an Mitgliedern.
In Ländern ohne diese Finanzierungsstrukturen, etwa in Österreich, Italien oder Frankreich wirken die Gemeinden dagegen oft lebendiger, innovativer und jünger. Sie müssen sich viel stärker um ihre Mitglieder bemühen. Die Eigenverantwortung für die Finanzierung, beginnend mit der Abschaffung der Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat, könnte deshalb auch in Deutschland ein Weg sein, der Entfremdung der Kirchenverantwortlichen von ihren Mitgliedern entgegenzuwirken.
Doch es braucht mehr. Verlorengegangene Nähe und Vertrauen müssen wiederaufgebaut werden. Nicht nur bei den Gemeinden, sondern in der gesamten öffentlichen Wahrnehmung. Das wird durch den gegenwärtigen Rückzug aus der Fläche ebenso wenig gelingen wie durch die seelsorgerische Distanz, die in vielen Gemeinden beklagt wird. Im Gegenteil: die Kirche und ihre Mitglieder müssen wieder zusammenfinden. Das geht nur mit einer Kirche, die für ihre Gläubigen da ist und nicht andersherum.
Von Lucia Puttrich