Der Historiker Dr. Meron Mendel erläutert, warum die Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 international keine besondere Rolle spielt.
. Der 9. November ist auf vielerlei Weise ein sehr deutscher Gedenktag. Gedacht wird an die entsetzlichen Pogromnächte des Jahres 1938. Der Mord an einem deutschen Diplomaten in Paris war für die Nazis der Vorwand, aus den zahlreichen juristischen und bürokratischen Schikanen gegen Juden offene Gewalt werden zu lassen. In nahezu allen großen deutschen Städten brannten Synagogen, wurden jüdische Geschäfte zerstört, jüdische Frauen, Männer und Kinder misshandelt, einige hundert ermordet. Die Sicherheitsbehörden griffen nicht ein, sondern ließen die Untaten bewusst zu; oft waren Nazi-Funktionäre in den Behörden sogar direkt für die Organisation verantwortlich. Es folgte die Deportation Tausender in die KZs.
Zynisch erlegte das Regime den Juden auf, für die Beseitigung der Überreste niedergebrannter Gotteshäuser auch noch zu zahlen. Bei alledem war der Widerstand in der nichtjüdischen Bevölkerung äußerst gering. Doch beschränkte sich die Gewalt nicht nur auf die Großstädte. Das Erschreckende und Neue war, dass die Ausschreitungen erstmals reichsweit stattfanden, bis in kleine Dörfer hinein - der Historiker Sven Kellerhoff hat das in seinem Buch "Ein ganz normales Pogrom" am Beispiel der rheinhessischen Gemeinde Guntersblum gezeigt, wo Täter und Opfer Nachbarn waren, sich seit Jahren kannten.
Gedenktag spielt international keine besondere Rolle
Ein sehr deutscher Gedenktag ist der 9. November auch, weil er international keine besondere Rolle spielt. Für uns Jüdinnen und Juden steht der Aufstand im Warschauer Getto im Vordergrund, sowie die Befreiung von Auschwitz. Viel mehr Aufmerksamkeit hat auch der Gedenktag für die Wannsee-Konferenz, auf der die "Endlösung" beschlossen wurde. In Russland wird der Sieg der Roten Armee im Mai begangen. Für meine Großeltern, in Belgien und in der Slowakei geboren, waren die deutschen Pogromnächte nicht besonders bedeutend: Die Millionen wurden nicht in Dachau umgebracht.
Dennoch und gerade deswegen ist es wichtig, sich an sie zu erinnern. Die Gewalt fand nicht "irgendwo im Osten" statt, sondern öffentlich, in jeder deutschen Stadt und in vielen ländlichen Gemeinden. Niemand konnte mehr behaupten, nichts mitbekommen zu haben. Der geringe Widerstand zeigt die breite Akzeptanz in der Bevölkerung, das Versagen einer ganzen Gesellschaft. Umso wichtiger, daran zu erinnern, weil viele Deutsche die Bedeutung des Widerstands weit überschätzen. Laut der Memo-Studien (Memo steht für "Multimedialer Erinnerungsmonitor") glaubt fast jede dritte Deutsche, dass die eigene Familie im Widerstand war. Harald Welzer zeigt in seiner Studie "Opa war kein Nazi", dass diese Beschönigungen über drei Generationen nicht ab-, sondern sogar zunahmen.
Rechte Kreise arbeiten in diesem Moment daran, die Geschichte noch weiter zu beschönigen. Die hessische AfD will den 9. November als "Gedenk- und Feiertag" etablieren, an welchem zugleich der Mauerfall gefeiert und den Pogromen gedacht werden soll. Ein geschmackloser Vorschlag, getragen von Kalkül: Die Nazizeit soll als Periode unter vielen in der Geschichte erscheinen, zum "Vogelschiss" werden, wie Gauland es nannte. Für die Verbreitung solcher und ähnlicher Thesen wird die AfD-nahe Erasmus-Stiftung ab der nächsten Legislatur sogar Steuergeld erhalten. Ein schauerlicher Gedanke - der zeigt, wie wichtig es ist, Erinnern ernst zu nehmen.
Von Dr. Meron Mendel