Böhmermann veröffentlicht angebliche hessische NSU-Akten

Moderator Jan Böhmermann im Studio seiner Late-Night-Show „ZDF Magazin Royal“.

Die Plattform „Frag den Staat” und das „ZDF Magazin Royale” von Jan Böhmermann haben nach eigenen Angaben für über 100 Jahre als geheim eingestufte NSU-Akten veröffentlicht.

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Berlin. Die Plattform „Frag den Staat” und das „ZDF Magazin Royale” von Jan Böhmermann haben nach eigenen Angaben als geheim eingestufte hessische NSU-Akten veröffentlicht. Angeblich hätten diese Akten bis zum Jahr 2134 - also 112 Jahre lang - unter Verschluss bleiben sollen. „Wir glauben, die Öffentlichkeit hat das Recht zu erfahren, was genau in jenen Dokumenten steht, die ursprünglich für mehr als ein Jahrhundert geheim bleiben sollten”, heißt es auf der dazu eingerichteten Webseite https://nsuakten.gratis/ . Um die Quellen zu schützen, seien die Akten komplett abgetippt und ein neues Dokument erstellt worden, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen, schrieb Böhmermann auf Twitter.

Bei dem am Freitag abrufbaren Dokument handelt es sich laut Deckblatt um einen Abschlussbericht zur Aktenprüfung im Landesamt für Verfassungsschutz Hessen im Jahr 2012. Der Bericht ist auf den 20. November 2014 datiert.

Seit Jahren Streit um die Akten

Um sogenannte NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes - Ergebnis einer Prüfung, bei der die Behörde eigene Akten und Dokumente zum Rechtsextremismus auf mögliche Bezüge zum NSU geprüft hatte - gibt es seit Jahren Streit. Sie waren zunächst für 120 Jahre als geheim eingestuft worden, später wurde die Zeit auf 30 Jahre verringert. Zehntausende Personen hatten in einer Petition die Veröffentlichung gefordert. Die Initiatoren der Petition erhofften sich neue Erkenntnisse über die Morde der rechtsextremen Terrorzelle «Nationalsozialistischer Untergrunds» (NSU) und mögliche Verbindungen zum Mord an Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

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Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) hatte im Mai 2021 die Entscheidung verteidigt, die Akten nicht zu veröffentlichen. «Für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden ist es immanent, dass sie ihre Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen können», sagte er damals im Landtag in Wiesbaden. «Ansonsten könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden.» Er verwies darauf, dass das zuständige Parlamentarische Kontrollgremium Verfassungsschutz vollumfängliche Akteneinsichtsrechte besitze und jederzeit sämtliche Informationen des Verfassungsschutzes einsehen könne.

NSU zog Jahre unerkannt mordend durch Deutschland

Der NSU hatte über Jahre unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Die Opfer: neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Die Rechtsterroristen verübten außerdem zwei Bombenanschläge mit Dutzenden Verletzten und etliche Banküberfälle. Einer der Morde wurde 2006 in Kassel verübt. Die beiden Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich 2011 getötet, um der Festnahme zu entgehen. Als einzige Überlebende des NSU-Trios wurde Beate Zschäpe als Mittäterin zu lebenslanger Haft verurteilt - auch wenn es nie einen Beweis dafür gab, dass sie selbst an einem der Tatorte war.

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Hessen spielt im Komplex um den NSU und Rechtsterrorismus eine besondere Rolle. In Kassel wurde am 6. April 2006 Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen. Er war das vorletzte Todesopfer der NSU-Mordserie, ein Jahr später ermordeten die Terroristen in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter. Später wurde bekannt, dass rund um die Tatzeit in Kassel auch ein Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz, Andreas Temme, vor Ort in dem Internetcafé war. Gegen ihn wurde zeitweise wegen Mordes ermittelt; er hingegen bestreitet etwas mit der Tat zu tun zu haben oder sie überhaupt mitbekommen zu haben. Die genauen Umstände der Tat sind bis heute ungeklärt. Zudem gab es in Hessen eine rechtsextreme Szene, die gut mit der Szene im Nachbarland Thüringen vernetzt war, aus der später der NSU hervorging.

Darüberhinaus finde sich in den „NSU-Akten“, so die Veröffentlicher von „Frag den Staat“ und „ZDF Magazin Royale“, gleich mehrfach der Name Stephan Ernst - der Mann, der am 2. Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke in dessen Zuhause erschossen hat. Schon 2009 habe der Verfassungsschutz notiert, dass Ernst als „aggressiv und gewalttätig“ einzuschätzen sei. Später jedoch wurde er vom Verfassungsschutz als „abgekühlt“ eingestuft, seine Akte wurde geschlossen. Die Umstände des Lübcke-Mordes, die Vorgeschichte und die Beobachtung des späteren Mörders durch den Verfassungsschutz stehen derzeit im Mittelpunkt eines Untersuchungsausschusses des hessischen Landtages. Am 4. November wird dazu Stephan Ernst als Zeuge in Wiesbaden aussagen.

„Was kaum vorkommt in den ,NSU-Akten‘, ist der NSU“

Zugleich dämpfen „Frag den Staat“ und das ZDF-Magazin jedoch die Erwartungen an das, was sich in den nun veröffentlichten Akten finden lasse. „Es muss in aller Deutlichkeit gesagt sein: Was kaum vorkommt in den ,NSU-Akten‘, ist der NSU“, heißt es in einer einleitenden Stellungnahme zu der Veröffentlichung. „Wer hofft, in diesen Berichten die Antwort auf offene Fragen zum NSU, Beweise für gezielte Vertuschungsversuche oder gar den Beleg für die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Mordserie zu finden, wird enttäuscht.“

Eine Antwort auf die großen Fragen zum NSU gebe es darin nicht; da jedoch zahlreiche Akten verschwunden seien, seien weiterhin erhebliche Zweifel angebracht, „dass die zusammengetragenen Erkenntnisse tatsächlich alles sind, was der hessische Verfassungsschutz gewusst hat“. Fazit der Veröffentlicher: „Die ,NSU-Akten‘ geben also kein abschließendes Urteil zur Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes zum NSU - weil der hessische Verfassungsschutz selbst nicht weiß, was der hessische Verfassungsschutz alles wusste.“