Die Gründe für die Verluste von Union und SPD sind vor allem abseits der Tagespolitik zu suchen – eine Analyse von Manon Metz und Dirk Metz
Von Manon Metz und Dirk Metz
Blick in die Reichstagskuppel oder Blick in die Kristallkugel? Die Zukunft der Volksparteien ist ungewiss.
(Foto: dpa)
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„Früher war alles besser“ – so loben ältere Zeitgenossen gerne vergangene Tage – und so könnte auch der eine oder andere Anhänger einer Volkspartei hierzulande klagen. Die Zeiten, in denen Union und SPD gemeinsam die überwältigende Mehrheit der Wählerstimmen bekamen, gehören einer entfernten Vergangenheit an. Setzten bei der Bundestagswahl 1976 noch neun von zehn Wählern ihr Kreuz bei einer der beiden Volksparteien, entfielen bei der Wahl im Herbst vergangenen Jahres gerade mal fünf von zehn Stimmen auf Union und SPD. Längst vergessen ist die „goldene Ära“ der 70er und 80er Jahre, als Union und SPD vielfach 40 Prozent plus X einfuhren. Nach den historisch schwachen Ergebnissen bei der Bundestagswahl 2017 sind die starken Verluste in Bayern für SPD und CSU besonders schmerzlich.
Betrachtet man die Wahlergebnisse der letzten Jahrzehnte, so geht die Zustimmung zu den hiesigen Volksparteien permanent zurück: Die Lage der SPD ist besonders dramatisch – in diesem Jahrzehnt schafften die Sozialdemokraten, addiert man alle Wahlen in Bund und Land, im Durchschnitt noch 28,3%, die CDU/CSU kommt auf 30,8%. Die breite gesellschaftliche Bindekraft von Union und SPD nimmt ab. Doch warum läuft den Volksparteien das Volk weg? Die Gründe liegen deutlich tiefer, als das Hickhack der vergangenen Monate nahelegen könnte.
Union und SPD kommen aus einer Zeit, in der sich weite Teile der Bevölkerung mit definierten Gesellschaftsgruppen identifizierten. Da gab es enge Beziehungen zum kirchlichen Milieu und den Gewerkschaften, über die beide Volksparteien ihre politischen Bindekräfte entfalteten und auch Personal rekrutierten. Sinkende Mitgliederzahlen der Kirchen, das Abschmelzen der klassischen Industriearbeiterschaft und damit vieler Gewerkschaften treffen CDU/CSU und SPD.
DIE AUTOREN
Manon Metz hat ihren Bachelor in Politikwissenschaft von der Universität Mannheim erhalten und an der Universität Amsterdam ihren M.Sc. in Politischer Kommunikation absolviert. Neben ihrer Tätigkeit als Kommunikationsreferentin bei DIRK METZ Kommunikation promoviert sie an der Universität Mannheim im Fach Politische Soziologie.
Dirk Metz ist Inhaber einer Agentur für Kommunikation und Krisenkommunikation. Zuvor war der gelernte Journalist elf Jahre Staatssekretär in der Hessischen Staatskanzlei und Sprecher der Landesregierung.
Gleichzeitig sorgt die zunehmende Digitalisierung für einen radikalen Umbruch unseres Alltags, der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Jung wie Alt einfordert. Das Telefon kam 80 Jahre nach seiner Erfindung gerade mal in 14 von 100 deutschen Haushalten zum Einsatz, während sich das Mobiltelefon in atemberaubendem Tempo ausgebreitet hat: Schon 20 Jahre nach Verkaufsstart hatten über 70% aller Haushalte in Deutschland ein Handy. Heute sind fast 90% der Bevölkerung online, und die Echtzeit-Kommunikation packt selbst die über 70-Jährigen, die fleißig tippen, um Kontakt zu Kindern und Enkeln zu halten. Dennoch: Ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich durch die Dynamik und Komplexität der Digitalisierung überfordert, unter den Ü-50-Jährigen sind es sogar 42% (Quelle: „Initiative D21“). Das Gefühl, abgehängt zu sein, kennen nicht wenige, die Sorge, mit dem Tempo der Digitalisierung nicht mehr Schritt halten zu können, viele.
Aber vor allem sorgt der technische Fortschritt dafür, dass wir als Gesellschaft weniger Gemeinsames erleben. Früher versammelte man sich vor dem Fernseher und schaute zusammen Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“, Rudi Carrells „Am laufenden Band“ oder „Wetten, dass..?“ mit Thomas Gottschalk. Heute gibt es Sender ohne Ende – und wir sind durch Mediatheken und Streamingdienste längst unsere eigenen Programmchefs. Millionen verfügbare Apps bewirken, dass kein Handybildschirm dem anderen gleicht – jeder spielt ein anderes Spiel, jeder informiert sich auf seine Weise. Während wir also geografisch in einem Land leben, bewegen wir uns online in völlig unterschiedlichen Welten. Es entsteht eine individualisierte Bevölkerungsstruktur.
Die Angst, abgehängt zu sein oder zu werden, sowie die zunehmende Individualisierung spalten die Gesellschaft zunehmend in zwei Lager: Das Lager derjenigen, die den radikalen Wandel akzeptieren oder sogar anschieben und jenes, das dem Wandel entgegensteht. Wissenschaftler bezeichnen diese Gruppen als Globalisten beziehungsweise Modernisierungsbefürworter und als Nationalisten beziehungsweise Modernisierungsgegner. Das politische Vakuum, das auf Seiten der Modernisierungsskeptiker entstanden ist, füllt heute die AfD, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung jüngst zeigte: Knapp zwei Drittel der AfD-Wähler lassen sich diesem Lager zuordnen. Für Union und SPD, die in beiden Welten verankert sind, wird der Spagat, beiden Gruppen gerecht zu werden, dagegen immer schwerer.
Die Gesellschaft wandelt sich radikal: Wer heute gefeiert ist, kann morgen wieder „out“ sein. Durch immer neue Pushmeldungen sind Nachrichten schon innerhalb weniger Stunden überholt. Das Tempo scheint so recht nicht mehr zu den demokratischen Grundpfeilern Deutschlands zu passen. Denn Demokratie kostet Zeit und verlangt den Bürgern auch ein Mindestmaß an Wissen über parlamentarische Abläufe und Zuständigkeiten ab, um das Geschehen einordnen und die notwendige Geduld für Entscheidungsprozesse aufbringen zu können. Doch viele kennen das kleine Einmaleins der Politik nicht mehr und machen um politische Diskussionen einen möglichst großen Bogen.
Die Flüchtlingskrise hat diese Situation weiter verschärft: Sie hat bei vielen Bürgern ein Gefühl von Unordnung hinterlassen. In Zeiten rasanter Veränderung entsteht jedoch zunehmend der Wunsch nach einer Führung, die stark genug ist, um durchzugreifen. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach haben 60% aller Bürger den Eindruck, dass zu oft auf Kompromisse gesetzt wird, weshalb starke Führungsfiguren notwendig seien. Der Blick dafür, dass dieses Land mit seinen Regeln über Jahrzehnte gut gefahren ist, scheint verloren zu gehen. Die Volksparteien können die Sehnsucht nach schneller Politik nur schwer bedienen: Sie vereinen, quasi per Definition, unterschiedliche Schichten und Sichtweisen – und müssen gleichwohl zu Entscheidungen kommen, die möglichst viele mittragen. Das kostet Zeit – und Profil. So läuft der Trend derzeit gegen die etablierten Volksparteien.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz haben diesen Unmut aufzunehmen versucht. Beide distanzierten sich bewusst vom alten Gewand der eigenen Partei, kleideten sich mit dem Begriff „Bewegung“ und wehrten zielsicher ab, was alt-bewährt und bürokratisch aussah. Dass auch bei einer Bewegung wie Macrons „En marche“ langsam die Entzauberung einsetzt, zeigt, dass Politik eben doch nicht ganz so einfach ist. Trotzdem: „Liste Kurz“ und „En marche“ haben gezeigt, dass sich die Bürger mehr „Bewegung“ wünschen.
All diese Faktoren sind Mitauslöser der sinkenden Zustimmung zu den Volksparteien. Diese Abwanderung der Wähler verändert die politische Landschaft gravierend: Mit jedem Prozent weniger für Union und SPD werden Koalitionsbildungen in Bund und Land schwerer. Schwarz-Gelb und Rot-Grün aus der „guten, alten Zeit“ regieren nur noch Nordrhein-Westfalen bzw. Hamburg und Bremen. Und je mehr Stimmen die AfD einfährt, desto zusammengewürfelter werden Regierungen. Eine Folge der Wählerverluste der Volksparteien – und des Aufkommens der AfD – ist, dass weniger die Inhalte möglicher Partner über Koalitionsregierungen entscheiden, sondern Rechenmeister „Adam Riese“, dem die mathematische Aufgabe zufällt, 50% plus X zusammen zu bekommen. In Sachsen müsste die CDU – Stand jetzt – sogar mit SPD, Grünen und FDP gemeinsame Sache machen, um eine Regierungsbeteiligung von Linke und AfD zu verhindern. Das Ergebnis sind zwangsläufig Koalitionsverträge auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Und mühselige Kompromisse, damit auch im Bundesrat überhaupt noch Mehrheiten zustande kommen.
Es ist ein Teufelskreis: Rasche und klare Entscheidungen sind gewollt – aber Koalitionen, die nicht schnell entscheiden und keine großen Veränderungen vornehmen können, werden „zusammengewählt“. Hinzu kommt: Wer eine Regierung mit Garantie abwählen möchte, kann paradoxerweise nur bei der Opposition rechts- bzw. linksaußen landen. Und das wiederum lehnt die überwältigende Mehrheit mit gutem Grund ab.
Unsere Volksparteien haben jahrzehntelang als Stabilitätsanker solide politische Mehrheitsbündnisse garantiert. Was passiert, wenn sie weiter an Zuspruch verlieren, lässt sich bei vielen europäischen Nachbarn längst beobachten: Von Spanien und Griechenland über Frankreich und die Niederlande bis nach Schweden ist die Statik der Parteienlandschaft durch herbe Verluste oder gar Auflösung der Volksparteien ins Wanken geraten. Setzt sich dieser Trend auch bei uns fort, wird man sich angesichts zerklüfteter politischer Verhältnisse eines Tages nur noch mit Nostalgie an die Zeit erinnern, in denen die Volksparteien im Wechselspiel politische Zwei-Parteien-Bündnisse führten. Ob es Union und SPD aus eigener Kraft gelingt das Blatt zu wenden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.