Vegetarischer Sternekoch Paul Ivic: Der Gemüsemann

Der Wiener Paul Ivic war weltweit einer der ersten, der für ein vegetarisches Restaurant einen Michelin-Stern erkochte. Foto: Ingo Pertramer

Wer in Wien nur Schnitzel und Tafelspitz isst, verpasst ein kulinarisches Abenteuer:Im Restaurant „Tian“ kocht Paul Ivic ohne Fleisch – auf höchstem Niveau.

Anzeige

. Ausgerechnet in der Schnitzelhauptstadt Wien gibt es das „Tian“, eines der ersten vegetarischen Sternerestaurants. Schuld daran ist auch die Lebenskrise des Kochs Paul Ivic.

Der Wiener Paul Ivic war weltweit einer der ersten, der für ein vegetarisches Restaurant einen Michelin-Stern erkochte. Foto: Ingo Pertramer
Ein Blick ins „Tian“ in der Himmelpfortengasse, mitten in Wien. Foto: Ingo Pertramer
„Sellerie in drei Varianten“, dazu Selleriesaft mit Erbsentrieben und Traubenessig. Foto: Ingo Pertramer

Hinfallen und wieder aufstehen. Das kann Paul Ivic. Es war eine Schnapsidee, auf die Paul Ivic durch den Dokumentarfilm „Super Size Me“ kam. Wie der Protagonist ernährte er sich nur von Junkfood. Eine Woche lang. Aus dem Experiment wurde eine Gewohnheit, drei Monate, in denen er ausschließlich Tiefkühl-Pizza, Wurstbrote und Chips aß – aus seinen 78 Kilogramm wurden 99. „Ich wurde tierisch faul, meine Laune war unterirdisch“, sagt er. Bis ein Mitarbeiter zu ihm sagte: „Chef, du bist so fett und schlecht gelaunt.“ Hinfallen, aufstehen. Ivic stellte seine Ernährung um, ging viel spazieren, nahm wieder ab.

Dann gab es eine Zeit, als dem Koch Ivic gutes Essen nicht mehr wichtig war. Weder privat noch beruflich. Es sei in den Restaurants, die er leitete, nur noch um den Profit gegangen, sagt der heute 40-Jährige: „Hauptsache, der Preis hat gestimmt. Ich hatte mich schon geekelt in der Küche. Ich wusste ja, woher der Pangasius kam, in welcher Kloake die Garnelen schwammen.“ Ivic hatte ein Burn-out. „Das war eine schwere Depression“, sagt er selbst. Hinfallen, aufstehen. Auch ein paar Jahre später, als bei ihm eine Herzkranzverengung diagnostiziert wurde.

Anzeige

Sein Sinneswandel kam bei einem Rührei

Es war ein 60-Cent-Ei, das ihn zurück zum Geschmack brachte. Ivic kaufte auf dem Markt für ein Rührei ein. Die Frau am Stand schwärmte von den frei laufenden Hühnern und ihren Eiern. Ivic war das relativ egal, er wollte seinen Hunger stillen, machte sich ein Rührei aus den angeblich so guten Eiern von glücklichen Hühnern. „Und beim ersten Bissen hatte ich ein Flashback. Ich war wieder vier Jahre alt, auf dem Hof meines Großvaters und aß dort ein Rührei“, schwärmt Ivic. „Ich habe mich daran erinnert, wie die Karotten geschmeckt haben, die ich dort aus dem Boden gezogen habe. Und mir wurde klar, warum ich eigentlich Koch geworden bin. Nämlich, um den Menschen ein richtiges Essen zu servieren. Meine Aufgabe ist es, dem Kunden zu sagen, dass er bei mir keinen Lachs bekommt, weil das einer der giftigsten Fische der Welt ist.“

Dieses richtige Essen ist bei Ivic nun ein 8-Gänge-Menü - entweder vegetarisch oder vegan für 127 Euro. Auf Sterneniveau. Das Gemüse, für viele Menschen Beilage, ist hier der Star. Wie etwa beim Zwiebelgang, wenn drei verschiedene alte Sorten mit Bockshornklee und Zirbenspänen zubereitet werden. Oder wenn beim Hauptgang Sellerie in drei verschiedenen, raffinierten Varianten als Rolle, Creme und Risotto serviert wird.

Dazu: ein Saft von Sellerie mit Erbsentrieben und Traubenessig. Denn wer möchte, muss keinen Wein zum Essen trinken, obwohl es eine sagenhafte Auswahl an österreichischen sowie ungarischen Weinen gibt. Die Saftbegleitung ist an sich eine große Überraschung, so wie im „Tian“ fermentiert, gemischt und kombiniert wird.

Anzeige

Das Restaurant liegt mitten in Wien in der Himmelpfortengasse. Ganz in der Nähe von Wirtschaften, die bestes Schnitzel, Gulasch und Tafelspitz servieren. Fleisch eben. „Man braucht eine gute Ausdauer und Konsequenz. Die Gäste dachten, wir servieren ihnen Tofu. Vor allem die Männer hatten Angst“, erzählt Ivic. Es wurde besser, als das Tian in Wien 2014 mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde. Dennoch: „Es gibt immer noch viele Männer, die sich nicht vorstellen können, dass ein ganzes Menü ohne Fisch und Fleisch ein Erlebnis sein kann“, sagt Ivic.

Und: Kann man Gemüse auf Sterneniveau zubereiten? Auf einmal war da ein Koch, der darauf Wert gelegt hat, dass das Gemüse höchste Qualität hat. Inzwischen hat das Tian mehr als 20 unabhängige Kleinbetriebe, von denen es beliefert wird.

Bis dahin war es ein weiter Weg: 2011 wurde das Restaurant eröffnet. Der Eigentümer, Christian Halper, Gastronom, Millionär und Vegetarier, wollte ein Restaurant, in dem es Gerichte aus Gemüse, Obst und Getreide gibt – auf Sterneniveau. Mit Paul Ivic fand er den richtigen Koch, einen, der für die Sache brennt. Das Gemüse, das auf den Tellern kunstvoll angerichtet wird, kommt von Bauern aus der Region. Ivic wollte keinen Fleisch- oder Fischersatz auf den Tellern haben. „Viele Rezepturen waren dann auf einmal wertlos. Ich musste das Kochen noch mal neu denken. Man muss da ganz von vorne anfangen.“

Aufgewachsen ist er in Südtirol, seine Großeltern väterlicherseits hatten einen Hof in Kroatien. Er war als Kind auf Feld und Wiesen unterwegs, um Essbares zu sammeln. Lernte von seinem Großvater, wie man Tiere schlachtet, wie man alles selbst macht.

Er kauft schon mal Spinat für 20 Euro pro Kilo

Ivics Biografie mit all den Höhen und Tiefen brachte ihn dazu, dass er heute Koch eines vegetarischen Sternerestaurants ist. Er isst aber immer noch Fleisch, „wenn ich mal bei einem Kollegen bin“. Er schwärmt von Kindheitsgerichten wie den Speckknödeln bei seinen Eltern. „Wir sind so erzogen, dass uns über Jahre eingetrichtert wurde, dass nur ein Fleisch eine anständige Mahlzeit ist.“ Ivic sagt „a Fleisch“, so richtig schön mit österreichischem Dialekt. „Da sind unsere Synapsen wohl noch verkrustet.“

Egal ob vegetarisch oder vegan – jedes Gericht wird von ihm und seinem Team nach denselben Fragestellungen geprüft: Schmeckt es? Hat es genug Tiefe? Löst es eine positive Emotion aus? Dann sagt Ivic: „Basst.“ Ivic ist einer, der alles kritisch hinterfragt: Gojibeeren, Avocados, industrielle Produkte sowieso. All das kommt im Tian nicht in die Töpfe. Der Wareneinsatz ist bei rein vegetarischer Küche nicht unbedingt geringer: „Ich kaufe auch mal einen Spinat um 20 Euro das Kilo, der eben ohne Herbizide und Pestizide gezogen wurde. Um eine gute Soße zu machen, brauchen wir dreimal mehr Material, um diese Dichte hinzubekommen.“

Ivic weiß, dass vegetarische und vegane Küche „im Trend“ ist. Wie es immer so heißt. Auch wenn ihm selbst etwas anderes viel lieber wäre: „Qualität ist es, die sich durchsetzen muss.“ Denn nicht überall, wo vegan draufsteht, sei auch Gutes drin.

Von Anja Wasserbäch