Mehrgewichtige Menschen sind keine Randgruppe: Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Dennoch erfahren sie oft Benachteiligungen. Hilft die Body-Positivity-Bewegung?
Region. Diesen Besuch in einem Café wird sie nicht vergessen. Die beleibte Frau hatte sich zu Kaffee und einem Stück Kuchen mit ihrem Freund verabredet und auf einen der schicken Stühle mit geschwungenen Armlehnen gesetzt – und zu spät bemerkt, dass dieser für ihre Körperfülle von 115 Kilo zu schmal geschnitten war. Die Frau saß fest. „Die Situation war mir schrecklich peinlich“, erzählt sie später. Aber was sie richtig verletzt hatte, war das Verhalten der anderen Cafébesucher. Die Blicke signalisierten überwiegend Schadenfreude. Einer sagte: „Dann lass uns das Nilpferd befreien.“
Solche Geschichten hört die Ärztin Veronika Hollenrieder oft, wenn sie mit ihren Patienten spricht: Die 62-Jährige leitet eine Praxis in der Nähe von München, in der sie viele übergewichtige Menschen betreut. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem mir die Patienten von ihrem Kampf mit den Hürden erzählen, die dicken Menschen im Alltag zugemutet werden.“
Strukturelle Diskriminierung
Die Gesellschaft gibt immer mehr Normen vor, wie Menschen auszusehen und sich zu verhalten haben. Wer nicht ins Schema passt, erlebt Nachteile: Eine Umfrage der Krankenkasse DAK ergab, dass 71 Prozent der Befragten dicke Menschen unästhetisch finden. Mehr als zehn Prozent gaben an, den Kontakt zu Dicken zu meiden. Eine Studie des Tübinger Sportwissenschaftlers Ansgar Thiel belegt, dass dicke Kinder von Gleichaltrigen dümmer eingeschätzt werden als Normalgewichtige und als Spielkameraden eher abgelehnt werden.
Es gibt auch strukturelle Diskriminierung. Wenn etwa Übergewichtige im Flugzeug extra eine Sitzgurt-Verlängerung beantragen müssen, weil sie sich ansonsten nicht anschnallen können. Oder die Belastungsgrenze von Liegestühlen bei 90 Kilogramm endet. „Übergewicht“, sagt die Ärztin Hollenrieder, „ist nicht nur eine körperliche Belastung.“ Wer dick ist, muss sich ständig fragen: Passe ich da rein? Hält mich das aus? Kommt mein Körper damit klar? Es sind diese Hürden, mit denen sich Betroffene täglich konfrontiert sehen und die ihnen das Leben schwerer machen als die überzähligen Kilos.
Dabei gehören Übergewichtige keiner Randgruppe an: Nach Angaben der Deutschen Adipositas-Gesellschaft sind in Deutschland rund zwei Drittel (67 Prozent) der Männer und die Hälfte (53 Prozent) der Frauen übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen ist stark übergewichtig – das sind 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen. Und die Zahlen steigen. So gesehen müsste sich niemand in seinem Körper unpassend fühlen.
Dergestalt proklamiert es seit ein paar Jahren auch die sogenannte Body-Positivity-Bewegung: Der Begriff meint, dass man den eigenen Körper lieben solle – auch wenn er nicht in die Kleidergröße 38 passt. Tatsächlich drängt sich inzwischen in der Werbung immer mehr die Plus-Size-Frau zwischen die Mannequins mit den üblichen Modelmaßen. Augenfällig dabei ist die Werbe-Kampagne eines Herstellers für Körperpflegeprodukte, wo Frauen aller Silhouetten in Unterwäsche posieren.
Die Gefahr, dass hiermit ein Lebensstil gefeiert werden könne, der eigentlich gesundheitsgefährdend ist, sehen Experten wie der Sportwissenschaftler Ansgar Thiel als gering an: „Natürlich stimmt es, dass Übergewicht Gesundheitsprobleme begünstigen kann“, sagt der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen.
Es kann Gelenkprobleme hervorrufen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Bei einer Coronainfektion erhöht Übergewicht die Gefahr eines schweren Verlaufs. „Allerdings wissen wir aus der Forschung, dass Vorwürfe und bevormundende Ratschläge von außen, die gesundheitsbewusstes Verhalten fördern wollen, eher Gegenteiliges bewirken“, so Thiel. Übergewichtige ziehen sich zurück, weil sie sich nicht verstanden fühlen. „Sie nehmen vor allem Ablehnung dessen wahr, wie sie sind und wie sie aussehen.“
Die Body-Positivity-Bewegung dagegen erlaube Vielfalt – und erlaube den Menschen, ihre Körperlichkeit zu akzeptieren. „Wer eine positive Beziehung zu seinem Körper entwickelt, wird auch eher lernen, besser für ihn zu sorgen“, ist Thiel überzeugt. Das könne auch dazu führen, dass sich dicke Menschen mehr für einen gesünderen Lebensstil interessieren.
Entscheidend dabei ist aber nicht, möglichst viele Kilos zu verlieren. „Die Forschung hat gezeigt, dass Fitness für die Gesundheit wichtiger ist als das Gewicht“, sagt Thiel. Dass Dicke keinen Sport mögen, sei ein irriges Klischee: „In unseren Studien haben sehr viele stark übergewichtige Menschen berichtet, dass sie eigentlich sehr gern Sport machen.“ Allerdings müsse es so organisiert sein, dass sie mitmachen können – ohne Furcht vor Ablehnung und Stigmatisierung. „Schon bei Kindern sollte es im Sportunterricht nicht primär um die Erbringung von sportlichen Leistungen gehen, sondern um den Spaß an der Bewegung und um die Vermittlung von Wissen, wie man fit wird.“
Blick auf die Lebensgewichtskurve richten
Die Ärztin Hollenrieder plädiert dafür, den Body-Mass-Index im Arzt-Patienten-Gespräch nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken, denn jeder Dicke weiß darum und möchte nicht immer darauf reduziert werden. Besser ist es, den Blick auf die Lebensgewichtskurve zu richten: „Sehr viele Betroffene haben ein Schicksal oder eine belastende Erfahrung durchgestanden, die ursächlich für ihr Essverhalten sind.“ Hier gelte es anzusetzen.
Nun ermutigt die 62-Jährige ihre Patienten dazu, gelassener mit sich und ihrem Körper umzugehen – ihn aber nicht außer Acht zu lassen. „Ich hake aber nach: Passt das Gewicht noch zur Lebensweise? Wie wird sich der Körper in fünf, sechs Jahren verändern, wenn sich die Lebensweise nicht ändert?“ Die Ärztin nennt dies „Bewusstmachung der Probleme – ohne dabei den Zeigefinger zu erheben“. Sie hat darüber ein Buch geschrieben („Ich bin dann mal dick!“, erschienen im Springer Verlag 2017).
Eines müsse aber auch klar sein, sagt Thiel. Es werde immer auch adipöse Menschen geben, die nicht abnehmen wollen. „Genauso wie es Menschen gibt, die wider besseres Wissen rauchen oder Alkohol trinken“, sagt der Wissenschaftler. „Aber das muss eine Gesellschaft auch akzeptieren.“