Schlamperei bei der Leichenschau: Morde bleiben unerkannt
Rechtsmediziner aus ganz Deutschland beklagen: Die meisten Totenscheine werden nicht korrekt ausgestellt. Bei rund der Hälfte ist eine falsche Todesursache angegeben.
Von Susanne Donner
Schulmäßige Obduktion in der Heidelberger Rechtsmedizin. Doch oft verläuft die äußere Begutachtung einer Leiche ganz anders.
(Fotos: imago/HR Schulz)
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MAINZ - Vorne auf der Leinwand ist ein blutüberströmter Mann mit einer riesigen Kopfwunde zu sehen. Das Gesicht ist entstellt. Der Mann sitzt schräg auf einem Sofa, als hätte ihn jemand absichtlich so drapiert. „Auf dem Totenschein war natürlicher Tod angekreuzt“, sagt Rüdiger Lessig und lacht leise. „Soll er etwa gegen die Armlehne gefallen sein? Das macht keine solche Verletzung.“ Vieles hat der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Halle schon erlebt, immer wieder berichtet er auf Tagungen darüber: Erschossene, die laut Totenschein einem Herzinfarkt erlagen. Verkehrstote, die natürlich gestorben sein sollen. Erhängte, denen der Kollege eine Lungenembolie attestierte. Ältere Menschen, die wegen Pflegefehlern gestorben sind, ohne dass das im Totenschein auftaucht. Lessig: „Bei einem von 25 000 von uns beschauten Leichnamen pro Jahr steckt ein unentdecktes Tötungsdelikt dahinter.“
„Die Qualität der Leichenschau ist erschreckend schlecht“, bestätigt Burkhard Madea, Direktor des Institutes für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Bonn. Hochgerechnet gehen die Experten von etwa 2000 nicht natürlichen Todesfällen pro Jahr aus, die bei der äußeren Begutachtung der Leiche durch einen Mediziner unerkannt bleiben. Mindestens 90 Prozent aller Leichenschauscheine stellten sich beim bloßen Studieren der Papiere als fehlerhaft heraus, ergänzt Rechtsmediziner Fred Zack aus Rostock. Er hat über 10 000 Dokumente geprüft. Nur 223 Urkunden erschienen ihm tadellos. Dabei inspizierte er die Leichen nicht einmal. Dann wäre wohl kaum ein richtiges Dokument übrig geblieben.
Schulmäßige Obduktion in der Heidelberger Rechtsmedizin. Doch oft verläuft die äußere Begutachtung einer Leiche ganz anders. Fotos: imago/HR Schulz
In der Pathologie des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart. Foto: Gottfried Stoppel
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Schon bei einer Obduktionsstudie im Jahr 1987 stellte sich jede zweite Todesursache auf dem Totenschein bei einer Öffnung der Leiche als falsch heraus. Seither machten Rechtsmediziner viele Verbesserungsvorschläge. Passiert ist nichts: Laut einer 2019 erschienenen Doktorarbeit aus Reinhards Lessigs Team decken sich nur 43 Prozent der Obduktionsergebnisse mit dem Ergebnis der Leichenschau. Jeder Zehnte in den Industrienationen stirbt an einem unerkannten Leiden, das hätte behandelt werden können, wie eine weitere Studie aus 2019 berichtet.
Schlampig oder fehlerhaft ausgefüllte Totenscheine haben weitreichende Folgen, denn Sterbeurkunden bilden die Grundlage der bundesweiten Todesursachenstatistik. Deren Ranking entscheidet darüber, wohin das Geld in der Gesundheitspolitik fließt: Ganz oben in der Statistik stehen Herz-kreislaufbedingte Todesfälle. Daher eröffnen Kliniken, noch in der kleinsten Kreisstadt, kardiologische Abteilungen. Auf Platz zwei folgen Krebserkrankungen: Die Pharmaindustrie verdient enorm mit immer spezifischeren Medikamenten, die Krebskranken durchschnittlich ein paar Wochen Lebenszeit schenken. Neuerdings gibt es auch mehr Geld für die Sepsisforschung, weil Blutvergiftungen eine immer häufigere Todesursache sein sollen.
Dagegen rangieren Infektionen in der Statistik weit hinten. Kaum zu glauben bei all den Infektionen, die sich geschwächte Menschen in Krankenhäusern zuziehen, meint der Bonner Rechtsmediziner Madea. Obduktionsstudien belegen, dass Krankheitserreger bei der Leichenschau vielfach unentdeckt bleiben: Bei Männern erkannten die Leichenbeschauer sie zu null Prozent richtig, bei Frauen zu 23 Prozent. „Wir haben auch eine massive Missachtung der echten Grippefälle, der Influenza. Wenn jemand an einer Lungenentzündung stirbt, müsste der Leichenschauarzt nachforschen, ob eine Influenza zugrunde lag und Laborbefunde dazu vorhanden sind. Das macht aber kaum jemand. Da haben wir eine massive Verzerrung der Todesursachen“, sagt der Berliner Rechtsmediziner Patrick Larscheid.
Warum ist Ärzten die Leichenschau so unwichtig? Die vordergründige Antwort lautet oft, der Dienst an den Lebenden habe Vorrang. Die Mediziner hätten schlicht zu wenig Zeit. In Wirklichkeit haben vor allem junge Ärzte Scheu, den Leichnam zu entkleiden und anzufassen, wie die Anatomin Heike Kielstein von der Universität in Halle berichtet. Die Leichenschau ist unbeliebt und nur etwas für die ganz Robusten. Bis Ende 2019 war sie zudem völlig unterbezahlt. Im schlimmsten Fall bekam ein Arzt laut Gebührenordnung gerade mal 33 Euro. Dieser Mindestsatz ist jetzt auf 111 Euro angehoben.
Diagnose kann nur durch Autopsie überprüft werden
Allenfalls der Hausarzt kennt alle Krankheiten, die den Toten zu Lebzeiten plagten. Aber statt im Zweifelsfall den Kollegen ausfindig zu machen, trägt der Notfall-Mediziner als Todesursache nicht selten einfach Herzversagen oder Lungenembolie ein. Zudem muss, falls auf dem Leichenschein eine ungeklärte oder gar nicht-natürliche Todesart angegeben wird, die Polizei ermitteln. Das macht Arbeit. Oder kann unangenehm werden, wenn etwa der Vertragsarzt eines Seniorenheims der örtlichen Pflege ein schlechtes Zeugnis ausstellt.
Die einzige Möglichkeit, die Diagnose der Leichenschau zu überprüfen, würden Autopsien bieten. Hierzulande werden seit Jahren immer weniger Tote obduziert. In Skandinavien, Großbritannien und Dänemark liegen die Obduktionsraten deutlich höher, teils in der Größenordnung von 30 Prozent. Das und eine gewissenhafte Leichenschau wären ein echter Beitrag zu mehr Rechtssicherheit und zur fairen Gesundheitsfinanzierung.