Gastkommentar von Christian Nürnberger: Was heißt heute noch „konservativ“?
Von Christian Nürnberger
Christian Nürnberger.
(Foto: Nürnberger)
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Konservativ sein heißt, immer erst 20 Jahre zu spät einzusehen, dass die anderen recht hatten. Und es stimmt ja: Noch heute geistern durchs Internet die Namen der angesehenen Unionspolitiker, die vor 20 Jahren gegen jenes Gesetz gestimmt hatten, das die Vergewaltigung in der Ehe zur Straftat machte. Die Herren lassen sich nur ungern daran erinnern.
So war es eigentlich immer: Konservative bekämpften im 18. und 19. Jahrhundert die Demokratie, viele auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie waren gegen die Gewerkschaften, das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung der Frau. Sie waren und sind noch heute gegen die Frauenquote und bestätigen damit unfreiwillig jene Bosheit, die Konservative zitiert mit dem Satz: „Wir sind für die Frauen-Unterdrückung, weil sie sich bewährt hat.“
Konservative sträubten sich über Jahrzehnte gegen Deutschland als Einwanderungsland. Als Roland Koch seinen Landtagswahlkampf mit Unterschriftenlisten gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bestritt, fragten dessen Anhänger, wo man hier „gegen die Ausländer unterschreiben“ kann. All das ist Konservativen heute peinlich. Solche Peinlichkeiten kennen allerdings auch die Sozialdemokraten, die sich immer an der Spitze des Fortschritts wähnten und dann ihren Kanzler Schröder erlebten. Als Juso hatte er einst auf der Straße gegen die Ausbeutung der Arbeiter protestiert. Als Kanzler hat er den Arbeitern und Arbeitslosen den Gürtel so eng geschnallt wie noch keiner vor ihm. Und die Bundeswehr, vom Juso Schröder und dem Hausbesetzer Joschka Fischer als böse und gefährlich verteufelt, ist dann von Schröder und Fischer nach Jugoslawien in den ersten Krieg ihrer Geschichte geschickt worden. Unvergessen ist Schröders Bezeichnung des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Behörde für „Frauen und so Gedöns“.
UNSER GASTAUTOR
Christian Nürnberger ist als Publizist tätig. Er sagt: Manche Begriffe von gestern sind heute völlig unbrauchbar geworden – kein Wunder, dass sich CDU/CSU-Wähler fragen, was heute noch konservativ ist.
Seitdem ist aber auch nicht mehr klar, was progressiv ist. Und es wurde immer noch unklarer. So hatten Atomkraft und Wehrpflicht lange Zeit als Teil des „konservativen Markenkerns“ gegolten – bis der Teilzeit-Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg die Wehrpflicht mit einem Federstrich abschaffte und die Kanzlerin in der Atompolitik über Nacht eine 180-Grad-Wende vollzog. Damals begann die Sozialdemokratisierung der CDU. Jetzt wurde plötzlich alles in den konservativen Markenkern integriert, was zuvor als rot-grünes Teufelszeug gegolten hatte. Seitdem fragen sich verstörte CDU/CSU-Wähler, was eigentlich noch konservativ sei an der Union – wie sich auch verstörte Sozialdemokraten fragen, was eigentlich noch fortschrittlich sei an der SPD.
Vollends unbrauchbar geworden ist der Begriff „konservativ“ nach der Finanzkrise. Ehemals grundsolide, hochseriös-konservative Bankiers hatten sich zu Bonus-Bankern fortentwickelt, die an der Börse um Milliarden zocken, die gewonnenen Milliarden einsacken und die verlorenen dem Steuerzahler aufbürden. Die Enttäuschung ist nun gewaltig bei denen, die ein halbes oder ganzes Leben lang geglaubt hatten, Familie, Anstand, Ehre, Markt, Einkommen nach Fleiß, Leistung und Tüchtigkeit, bürgerliche Tugenden und Moral gehörten zusammen. Nun hatte ausgerechnet das wertkonservative und liberale Bürgertum die Erfahrung machen müssen, dass genau diese bürgerlichen Werte von den „eigenen Leuten“ zerstört worden waren. Den Rest besorgten die Kirchen mit ihren Missbrauchsskandalen.
Daher führen Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und Jens Spahn Scheingefechte, wenn sie die CDU „in der Mitte“, ein bisschen mehr rechts davon oder noch ein Stückchen weiter rechts verorten wollen. Sie sollten lieber konkret sagen, was sie denn wirklich vorhaben mit dem Asylrecht, Hartz IV, den Dieselfahrverboten, dem Rentenalter, dem Kurs der EU, dem Umgang mit den Internet-Monopolisten und all den anderen Baustellen unserer Demokratie. Wie das dann zu bezeichnen wäre – egal.