Die Wormser Selbsthilfeinitiative Lipödem „Lily“ trifft sich am zweiten Freitag des Monats in Neuhausen. Mit ihrer Erkrankung möchten die Betroffenen an die Öffentlichkeit gehen.
WORMS. Sabine Röhrenbeck erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie mit Schmerzen in den Beinen aufwachte. Es war August 2017, sie war schwanger, es war heiß. Vielleicht eine Reaktion auf die Temperaturen? Nein, was sie fühlte, war anders. „Als würden meine Beine mit flüssigem Beton volllaufen.“ Sabine Röhrenbeck stellte sich vor den Spiegel, sah, dass sie zugenommen hatte. Eine ganze Menge. Über Nacht. Für die Wormserin ein Schock. Heute weiß Sabine Röhrenbeck, dass sie damals einen Schub hatte. Die Lerntherapeutin leidet an der Fettverteilungsstörung „Lipödem“. Und mit ihr viele Frauen, manche jahrzehntelang ohne Diagnose. „Der Leidensdruck ist groß, die Erkrankung für alle sichtbar – und noch dazu ein Kampf, den wir nicht gewinnen können.“ Sabine Röhrenbeck hat sich mit Lipödem arrangiert, möchte Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Dazu hat sie eine Selbsthilfeinitiative gegründet. In der Müllerei in Neuhausen trifft sich die Gruppe „Lip-/Lymphödem Worms“ (Lily) seit Mai regelmäßig. Der Zulauf ist stark, zum dritten Treffen sind mehr als 20 Frauen gekommen.
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Diäten schlagen bei Betroffenen nicht an
Gertenschlank war Sabine Röhrenbeck nie. Doch mit 13 Jahren, in der Pubertät, nahm sie plötzlich an den Oberschenkeln zu. „Obwohl es mir nicht normal vorkam, habe ich es damals auf die Hormone geschoben“, sagt die Lerntherapeutin. In ihrer Jugend versuchte sie, mit Diäten abzunehmen. Doch die schlugen nicht an. Immer wieder ging sie mit ihren Beschwerden zum Arzt, immer wieder wurde ihr das Gefühl vermittelt, sie allein sei Schuld an der Gewichtszunahme. Sie schämte sich.
Die Diagnose ließ bis zur Schwangerschaft auf sich warten. „Sekundäres Lymphödem“, das Gewebswasser staute sich, das Spannungsgefühl wurde immer stärker. „Das Wasser stand mir im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals“, sagt Sabine Röhrenbeck. „Mir passten keine Schuhe und Strümpfe, nicht einmal die meines Mannes.“ Da sie das Haus nicht mehr verlassen konnte, suchte ihre Mutter Hilfe in der Praxis von Bettina Vollbracht. Die Physiotherapeutin war einfühlsam, kannte sich aus, empfahl einen Gefäßspezialisten in Ludwigshafen. Es folgte eine Lymphdrainage-Behandlung dank der es Sabine Röhrenbeck heute besser geht – körperlich.
Das Schlimmste an der Krankheit seien jedoch nicht die Schmerzen. „Viel schlimmer ist die Stigmatisierung, der wir ausgesetzt sind“, sagt sie. Auch Bettina Vollbracht kennt die Geschichten. In ihrem Beruf hat sie von den Leidenswegen vieler Patientinnen gehört. „Da wird im Eiscafé gelacht, wenn die Frauen Eis essen oder eine Cola trinken. Ärzte weigern sich, zu entbinden, weil sie den Gesundheitszustand der Frauen für unzumutbar halten.“
Neulich hatte die Physiotherapeutin bei einem 15-jährigen Mädchen den Verdacht auf Lipödem. „Wie findet man die richtigen Worte, einer Mutter beizubringen, dass ihre Tochter ein Leben lang zunehmen wird, und an ihrer Situation so gut wie nichts ändern kann?“
Aus diesem Gedanken heraus sei die Idee zur Gruppe entstanden, sagt Sabine Röhrenbeck. Sie leitet die Gruppe, Bettina Vollbracht steht ihr beratend zur Seite. Bei den „Lilys“ können sich Betroffene austauschen, auch über Themen, die wehtun. „Ein großes Thema für Frauen, die Lipödem haben, ist die Selbstliebe, auch innerhalb einer Partnerschaft.“ Denn während der Schübe verändere sich nicht nur der Körper, sondern auch die Einstellung zu sich selbst. Das merke der Partner. „Man weiß, dass man nichts tun kann, fühlt sich hilflos.“ Und dann sei da noch die „Gummihose“, eine Kompressionsstrumpfhose, die viele der Frauen verschrieben bekommen. „Die ist unangenehm, gerade bei der Hitze.“
Gruppe geht an die Öffentlichkeit
Offen und selbstbewusst mit ihrem Schicksal umzugehen war für Sabine Röhrenbeck ein Prozess. Um betroffenen Frauen den zu erleichtern, hat sie sich einen Ruck gegeben, geht an die Öffentlichkeit. „Wir sagen ja zum Leben, wollen zeigen, dass es uns gibt“, sagt die Wormserin. Der Anfang ist getan, unter den 20 Frauen, die zum Treffen gekommen sind, sind fünf neue „Lilys“ – und täglich gehen neue Anrufe ein. Dass die Frauen sich erst kürzlich kennengelernt haben, merkt man nicht. Sie haben sich viel zu erzählen, die Stimmung ist gut. Den Kopf hängen lassen, möchte hier niemand. Sabine Röhrenbeck ist zufrieden. Mit den „Lilys“, aber auch mit sich selbst. Für sie ist heute ein besonderer Tag. „Nach all der Zeit passe ich zum ersten Mal wieder in schicke Schuhe.“ Sandalen, eine Wohltat nach monatelanger Therapie.