WORMS - Drei Vorträge zu Raschi hat der Verein Warmaisa zum Programm der Jüdischen Kulturtage beigesteuert, und jedes Mal war die Veranstaltung ein Gewinn. Das lag vor allem an der sehr unterschiedlichen, aber immer sehr lebendigen Herangehens- und Vortragsweise der Referenten. Der unterhaltsamste Beitrag war mit Sicherheit der letzte. Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky faszinierte nicht nur als sprühender, schlagfertiger Redner, sondern vermittelte eindrücklich, „wie Raschi tickte“.
Grundlagenwerk aus dem 11. Jahrhundert
Auf geschichtliche Details verzichtete Vernikovsky. Lebens- und Zeitumstände Raschis hatte allerdings auch schon Professor Isaac Kalimi ausgiebig behandelt. Der hatte auch aufgezählt, was Raschi kommentiert hat, nämlich den Tanach, der die Tora (fünf Bücher Mose), die Propheten, Psalmen und Geschichtsbücher enthält, sowie nahezu alle Teile des babylonischen Talmuds. Über diese Schriften, sagte Vernikovsky, definiere sich das Judentum.
Vernikovsky, der seit Februar 2015 Rabbiner der jüdischen Gemeinde ist und in den 90er-Jahren auch Politik, Journalistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft studiert hat, charakterisierte Raschis Verfahren wie folgt: Er schreibe kurz, prägnant, wortgeizig und ziehe zur Deutung die passendsten Kommentare rabbinischer Literatur und Verse der Schrift zurate. Seine Anmerkungen seien konstruktiv, kontexterhellend, analytisch, diskursiv und kritisch. Gerade Letzteres sei im 11. Jahrhundert sehr ungewöhnlich. Aus all diesen Gründen seien Raschis Kommentare bis heute ein Grundlagenwerk.
Anhand von drei Beispielen erläuterte Vernikovsky, wie der Gelehrte vorging. Dabei wurde klar, wenn auch nicht ausdrücklich gesagt, dass die wichtigste Voraussetzung für die rabbinische Exegese die Überzeugung ist, dass Moses selbst die Tora verfasst und jede Formulierung wie die Gesetzestafeln selbst in Stein gemeißelt ist. Widersprüchlichkeiten müssen die rabbinischen Kommentatoren deshalb durch Textarbeit auflösen. Dies geschieht oft auf verschlungenen Pfaden.
So folgert Raschi in einem komplizierten Konstrukt aus dem ersten Satz der Schöpfungsgeschichte „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, dass die Erschaffung der Welt eine Demonstration göttlicher Macht sei. Der Bericht darüber stehe am Anfang der Tora, um unmissverständlich zu klären, dass er als „Hausherr“ darum auch das Recht habe, seinem Volk das ursprünglich von anderen Stämmen besiedelte Land Kanaan zum Eigentum zu geben. Dies sei ein progressiver Gedanke, meinte der Referent bewundernd; beinahe schon prophetisch-zionistisch.
Die zweite Textstelle bezog sich auf die Forderung Gottes: „Ihr sollt heilig sein (3. Mose 19,1). Hier zeigte Vernikovsky, dass Raschi quasi den gesamten Tanach „gescannt“ habe, um den Begriff „heilig“ durch vergleichende Aussagen zu klären. Und schließlich ging es um einen Vers aus 3. Mose 19,3, der die Ehrung der Eltern mit der Einhaltung des Sabbatgebots zusammenbringt. Raschi erläutert diese Kombination damit, dass der Respekt den Eltern gegenüber nicht dazu führen dürfe, den Sabbat zu brechen. „Durch den Vergleich von Versen und Geschichten macht Raschi die Texte kompatibel und schafft eine gewisse Ordnung“, fasste Vernikovsky die Arbeit des Gelehrten zusammen. Von daher sei er bis heute der unangefochtene Leitkommentator der Tora und des Talmuds.
Raschi und Jesus wollte der schlagfertige Rabbiner nicht miteinander vergleichen. „Jesus war ein schreibfauler Typ“, meinte er. „Er hat nicht kommentiert, sondern mit den Menschen gearbeitet.“