Carsten Hermes, gelernter Krankenpfleger, sitzt im Vorstand einer der größten medizinischen Gesellschaften Deutschlands. Was er zum Pflegenotstand sagt? Hier ist sein Weckruf.
MAINZ/BONN. Das Gespräch dauert bereits über eine halbe Stunde, als es aus Carsten Hermes unverblümt herausbricht. "Es reicht einfach", ruft er in den Hörer – und meint damit alles, was Pflegekräfte auf den Stationen der Krankenhäuser seit Jahren aushalten müssen. Den Druck, eine ausufernde Belastung, schlechte Bedingungen. Hermes, 44, kennt die verschiedenen Facetten des Pflegeberufs wohl so gut wie kaum ein anderer: Als gelernter Krankenpfleger arbeitete er in zig Bereichen der Pflege, heute bildet er junge Menschen aus. Und er ist Sprecher der Sektion Pflege in der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN). Mit ihm sprechen wir darüber, wie sich die Pflegenden gerade fühlen, warum es zu dieser desaströsen Situation kommen konnte – und was zu tun ist, bevor das System kollabiert.
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Herr Hermes, einen Pflegenotstand haben wir nicht erst seit der Corona-Pandemie. Das Pflegepersonal in Krankenhäusern berichtet von erreichten Belastungsgrenzen, von einem Missstand, den niemand zu lösen versucht. Was genau bedeutet Pflegenotstand – und wo rührt das Phänomen überhaupt her?
Also Notstand an sich ist ein schwieriges Wort. Tatsächlich befinden wir uns in einer prekären Situation, in der wir punktuell in vielen Kliniken einen Notstand haben: Das heißt, qualifiziertes Personal ist nicht in ausreichender Zahl und beziehungsweise oder mit der Qualifikation vorhanden, um die Patienten angemessen zu versorgen. Diese Entwicklung hat sich in Wellen durch Deutschland gezogen, schlimme Situationen gab es bereits in den 60er oder späten 80er Jahren. Seit Mitte der 90er Jahre wurden Pflegestellen dann sukzessive abgebaut und künstlich verknappt, weil durch das Finanzierungssystem der Krankenhäuser am Personal gespart wurde – während aber zwischen 1995 und 2020 Betten und Ärzte sogar aufgestockt wurden. Jede Störung durch eine "normale" Krankheit kann auf einer Station zum Zusammenbruch ganzer Dienstpläne führen. Hier wird mit Menschen, mit den Pflegenden, ein Hütchenspiel getrieben. Es kommt zu Zwangsversetzungen und Zuweisungen zu fachfremden Abteilungen. Die Kollegen fühlen sich mancherorts ausgepresst wie Zitronen.
Also wurde und wird an dem Hebel gespart, der in unserem Gesundheitssystem eigentlich am wichtigsten ist: an der medizinischen Versorgung der Patienten. Wie konnte es so weit kommen?
Auslöser war mit Sicherheit eine falsch verstandene Ökonomie. Sparsam sein ist nicht gleichbedeutend mit Einsparen-müssen. Hier wurde ein Teil des Gesundheitssystems regelrecht kaputtgespart. Einen Grund für den Missstand müssen wir uns von der Pflege leider auch selbst ankreiden: den schwachen Organisationsgrad in Berufsverbänden oder Kammern – und das, obwohl wir mit 1,7 Millionen Pflegekräften die größte Berufsgruppe in Deutschland stellen. Die Pflege war schon immer fremdbestimmt. Alle wichtigen Fragen und Entscheidungen, die uns betreffen, werden seit jeher von Berufsfremden beantwortet und getroffen.
Wie wirkt sich dieser Personalmangel unmittelbar auf den Stationen aus? Wie geht es einer Pflegekraft, die morgens zur Frühschicht antritt und weiß, wie es um sie und ihren Beruf bestellt ist?
Sie muss ständig wider besseren Wissens handeln und gegen ihre ethischen Grundsätze verstoßen. Weil sie, obwohl sie will und könnte, die Qualität der Pflege nicht erbringen kann. Das zieht einen unglaublich runter. Bei vielen ist da nur noch eine absolute Leere, nicht einmal mehr Wut. Die größte Sorge, die ich habe, ist, dass unsere Pflegekräfte keinen Burnout, sondern einen Coolout kriegen. Dass es sie also irgendwann emotional kalt lässt, wenn sie gegen Grundsätze verstoßen. Die Bereitschaft zur Kompensation ist versiegt, die Pflegenden sind oft physisch und psychisch jenseits des absoluten Nullpunkts. Sie haben mehr als nur eine Ohrfeige kassiert. Es reicht einfach.
Die Zustände klingen dramatisch. Als wäre der Pflegenotstand ein Fass ohne Boden. Irgendwie muss man dieser Abwärtsspirale doch entfliehen können...
Die Verantwortlichen in der Politik und in den Kliniken müssen mit dem Berufsstand reden und ihn aktiv in die Lösungsfindung einbinden. Es wird immer nur über uns, aber nie mit uns zusammen eine Problemlösung angegangen. Wir müssen am Tisch der Entscheidungen sitzen, auf lokaler, Landes- und Bundesebene. Schauen Sie mal in den Pandemiestab: Corona betrifft in den Kliniken vor allem auch die Pflegenden – aber sitzt eine Pflegekraft in diesem Gremium? Herr Minister Lauterbach hat bereits im Dezember auf dem DIVI-Kongress versprochen, uns in die Taskforce einzubinden. Als Berufsstand scheint man aber schnell in Vergessenheit zu geraten. Dabei ist Pflege eine eigene Profession, eine Wissenschaft. Wir sind keine Disziplin der Medizin, das wird von der Gesellschaft aber noch nicht so wahrgenommen. Wir brauchen auf jeden Fall eine sofortige Veränderung. Innerhalb von drei bis sechs Monaten könnten wir die anschieben – wenn der Wille, Geld und Ressourcen da sind.
Wie, Herr Hermes, erklären Sie sich denn, dass es in einem für die Gesellschaft essenziellen Sektor wie der Pflege an Geld mangelt?
Das müssen Sie diejenigen fragen, die auf den Budgettöpfen sitzen. Oder die Bevölkerung, die für sich selbst beantworten muss, was sie sich leisten kann und leisten möchte. Fakt ist, dass wir nicht hier stehen und angesichts der Situation sagen: 'Überraschung!' Das kam über die Jahre mit Anlauf und Ankündigung.
Und wie, auf der anderen Seite, bringen wir mehr junge Menschen dazu, in die Pflege zu gehen?
Indem wir zuerst die Arbeitsbedingungen verbessern, um den Beruf attraktiv zu machen. Ansonsten bietet dieser Beruf an sich die größte Möglichkeit, sich zu entfalten. Sie begleiten einen Menschen von der Geburt bis zu seinem Lebensende – da wird es Ihnen nie passieren, dass sie sagen, Sie haben den falschen Weg eingeschlagen. Der Beruf stößt eine Tür der Vielfalt auf. Sie können studieren, ausbilden, forschen, promovieren, habilitieren und in der Klinik oder überall sonst Ihrem Beruf nachgehen. Pflege findet nicht nur am Bett statt – aber immer mit und für Menschen!
Zugegeben, das alles klingt aber so, als wäre – sofern keine Besserung der Situation in Sicht ist – die medizinische Versorgung kranker Menschen irgendwann gefährdet. Welche Folgen kann das in den nächsten Jahren haben?
Die Gesellschaft muss sich selbst einfach fragen: Welche Versorgung möchten und können wir uns leisten? Wir, als eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, werden einen Abstieg erleben. In fünf Jahren werden wir nicht mehr dort sein, wo wir gerade sind. Und es wird vor allem sozial Schwächere und Randgruppen treffen. Das ist nicht nur eine These, das wird auch von der demografischen Entwicklung belegt. Dann wird der ein oder andere feststellen, dass er nicht die Versorgung bekommt, die er braucht oder gerne hätte. Die Frage ist: Möchten wir eine sehr gute oder nur eine ausreichende bis mangelhafte Versorgung?
Und die Pflege? Wo steht sie dann? Will jemand überhaupt noch einen Job erfüllen, in dem die Arbeits- und Randbedingungen katastrophal sind und sich scheinbar nicht bessern?
Die Pflegebedürftigkeit wird steigen, Pflege wird also stärker gefragt sein denn je – und es wird immer Menschen geben, die dem Beruf eng verbunden bleiben und ihn ausüben möchten. Wir werden dann aber qualitativ stillstehen. Alle Professionalität und Qualität, die wir uns erarbeitet haben, stagniert oder geht verloren. Stellen Sie sich vor: Wenn in einem Krankenhaus heute fünf Pflegekräfte kündigen, sind das oft mehr als 100 Berufsjahre Erfahrung, die plötzlich fehlen. Wie wollen Sie das kurzfristig auffangen? Aber das passiert gerade. Die Gruppe der Pflegenden hat lange gewartet – jetzt vollzieht sie.