Eine vierköpfige Familie wird am Donnerstag erwartet. Das ist das erste konkrete Ergebnis eines Kreistagsbeschlusses. Es geht um Bewohner des ausgebrannten Lagers Moria.
KREIS GIESSEN. Am kommenden Donnerstag soll eine vierköpfige Familie aus einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im Landkreis Gießen aufgenommen werden. Dies ist somit das erste konkrete Ergebnis eines Beschlusses, den der Kreistag in seiner jüngsten Sitzung gefasst hat. Demnach ist der Landkreis Gießen bereit, Flüchtlingsfamilien mit Kindern von Lesbos aufzunehmen und hier unterzubringen. Dazu soll es dann Gespräche mit den Kreiskommunen geben. Zugleich werden Bundes- und Landesregierung sowie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) aufgefordert, das Angebot des Landkreises Gießen und anderer Kommunen anzunehmen, um mehr Menschen hier aufzunehmen, die im abgebrannten Flüchtlingslager Moria gelebt haben. Der Kreistag beschloss dies gemäß eines Antrags, den SPD, Grüne, "Gießener Linke", Thomas Jochimsthal von der Piratenpartei und der Kreisausländerbeirat gestellt hatten. Es gab 37 Ja-, 24 Nein-Stimmen und eine Enthaltung.
Wie die Kreisverwaltung auf Anfrage dieser Zeitung mitteilte, ist für besagte Familie nach der Einreise über den Flughafen Hannover ein unmittelbarer Transfer in den Landkreis Gießen geplant. Bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft werde man dafür Sorge tragen, dass die notwendigen Quarantänemaßnahmen eingehalten werden.
Derzeit könne das Regierungspräsidium (RP) Darmstadt noch nicht absehen, ob und wann dem Landkreis weitere Menschen aus dem Lager auf Lesbos zugeteilt werden. Die Kreisverwaltung zitiert das RP Darmstadt, dass es infolge von Erkrankungen in den Flüchtlingslagern zu erheblichen Verzögerungen bei der Ausreise komme. In erster Linie teilt das RP Darmstadt die Menschen nach Familienbezug in Hessen den jeweiligen Kommunen zu.
In der Begründung des im Kreistag beschlossenen Antrags wird auf die Bedingungen in dem Lager Moria verwiesen, das für 2800 Menschen ausgelegt war, in dem aber zeitweise 12 000 Erwachsene und Kinder lebten. Durch einen Brand Anfang September verschlimmerte sich die Lage. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" hatte gefordert, alle 12 000 Bewohner sofort zu evakuieren.
Ende Juni 2020 hatte der Kreistag nach einer streckenweise emotionalen Debatte die Bereitschaft erklärt, aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufzunehmen und sich dafür dem Bündnis "Städte Sichere Häfen" anzuschließen. Daraus folgert für die Antragsteller, dass der Landkreis seinen Teil beitragen sollte, die Flüchtlinge aus Moria in Sicherheit zu bringen.
Tim van Slobbe, der Vorsitzende des Kreisausländerbeirats, betonte, dass das neue Lager Kara Tepe schlimmer als Moria sei und beklagte "menschenunwürdige Zustände an den Außengrenzen der EU". Bei geschätzt 20 000 Menschen in dem Lager gehe es für den Landkreis Gießen um eine Anzahl von 62 Personen, die aufzunehmen seien. "So viele kamen 2015 an einem Tag. Wir können das leicht stemmen", meinte van Slobbe.
Eklat im Juni
Günther Semmler, der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler, kündigte an, dass ein Teil der Fraktion an Debatte und Abstimmung nicht teilnehmen werde. Zur Begründung verwies er auf die Sitzung von Ende Juni. Damals hatte der ehrenamtliche Kreisbeigeordnete Istayfo Turgay (SPD), der unter anderem Integrationsdezernent ist, für einen Eklat gesorgt. Er hatte Richtung CDU gesagt, dass er eigentlich erwartet hätte, dass die christlichen Werte bei der Entscheidung eine stärkere Rolle spielen würden. Und weiter: "Wer das ablehnt oder sich enthält, der stimmt der AfD zu, Ihren Freunden, die rechts von Ihnen sitzen." Kreistagsvorsitzender Karl-Heinz Funck (SPD) hatte Turgay für diese Aussage gerügt. Die Freien Wähler verließen vor der Abstimmung aus Protest den Saal.
Angesichts dieser Vorgeschichte forderte Frederik Bouffier (CDU) dazu auf, das Thema "mit so wenig Emotionen wie möglich" zu diskutieren. Er begründete das Nein der CDU damit, dass man mit rascher Hilfe vor Ort die Lage der Menschen verbessern müsse. Deutschland habe zugesagt, 1500 Flüchtlinge von Lesbos aufzunehmen, kein anderes Land in Europa wolle aber diesem Beispiel folgen. Bouffier nannte es ein "falsches Signal", den Antrag zu beschließen.
"Es geht um Menschen, die hungern. Sie brauchen schnelle Hilfe" warb Stefan Walther von den "Gießener Linken" um Zustimmung. "Hilfe vor Ort" sehe so aus, dass die Flüchtlinge aufs Festland gebracht würden, wo man sie aber auch nicht unterstütze, woraufhin sie nach Lesbos zurückkehrten. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Haas bekräftigte, dass der Landkreis in der Lage sei, zu helfen.