Lüge oder Irrtum? Die Glaubwürdigkeit eines Angeklagten steht nach einer falschen Identifizierung auf dem Prüfstand. Für Diskussionen sorgen auch die Chats eines Kommissars...
GIESSEN. Den Komplizen schien der junge Mann auf dem Foto sofort zu erkennen. Wenngleich das Piercing an der Oberlippe fehlte. Auch die sonst übliche Brille saß nicht auf der Nase. Zudem wirkte das Gesicht insgesamt schlanker als in der Erinnerung. Gleichwohl war sich der 30-Jährige "1000-prozentig sicher": Das dritte ihm von der Polizei vorgelegte Lichtbild zeige "El Ano". Schließlich hatten sich die beiden "oft gegenüber gesessen", sich gar im Urlaub "in Kolumbien getroffen" und die gemeinsamen kriminellen Interessen offenbar mit einem gewissem "Joko" auf die Online-Vermittlung von gar nicht zu vermietenden Ferienobjekten auf Mallorca, am Gardasee und in verschiedenen Skigebieten konzentriert. Nach Überzeugung von Staatsanwältin Lisa Zimmermann hat der schmächtige, kleingewachsene Niederländer auf Initiative jenes "Joko" seine geschäftlichen Aktivitäten schon bald ins Drogenmilieu verlagert. Und mit der Unterstützung von diversen Internetbekanntschaften sollen sie mit "Chemical Revolution" den wohl deutschlandweit größten Onlineshop für Kokain, Amphetamin und andere berauschende, illegale Substanzen aufgezogen haben.
Deshalb müssen sich nun sieben Angeklagte aus Deutschland, Holland und Polen wegen des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vor dem Gießener Landgericht verantworten. Dabei steht am achten Verhandlungstag die Glaubwürdigkeit des Niederländers im Mittelpunkt. Zudem sorgen in der Kongresshalle verschiedene Ermittlungen des Bundeskriminalamtes (BKA) für Kopfschütteln und scharfe Nachfragen.
Foto mit Escobars Bruder
Aufgrund der großangelegten Betrügereien war der 30-Jährige damals ins Visier der Ermittler gerückt. Und nach der Rückkehr aus Kolumbien konnte er im November 2017 am Flughafen Madrid verhaftet werden. Insbesondere wegen seiner seltenen, lebensbedrohlichen Erkrankung hat der Niederländer alsbald eine "Lebensbeichte" abgelegt und den Strafverfolgungsbehörden massenhaft Informationen über Mittäter verraten. Vor allem hat er den Hauptangeklagten als jenen "Joko" benannt. Da sich allerdings die "Identifizierung" von "El Ano" inzwischen als falsch erwiesen hat, soll der Niederländer im "Externen Sitzungssaal 2" als vermeintlicher Lügner entlarvt werden. Mit seinem Interesse an "teuren Gegenständen", seinen Geschäften mit "Luxusautos" und einer aus Kolumbien mitgebrachten Fotoaufnahme mit einem Bruder von Drogenboss Pablo Escobar scheint die Verteidigung dafür reichlich Ansatzpunkte zu sehen. "Können Sie sich gut Geschichten ausdenken?", fragt deshalb Rechtsanwalt Frank Richtberg, dessen Mandant die Drogen für den Online-Shop organisiert haben soll. Immerhin sei der 30-Jährige mehrfach wegen Betruges vorbestraft. Und um andere Menschen derart täuschen zu können, müsse man eben reichlich Phantasie haben. Till Gutsche wiederum gibt sich gar überzeugt, dass die Ermittler auf die "Identifizierung" von "El Ano" gedrängt hätten. Diese hat nämlich tatsächlich im vergangenen Dezember zur Festnahme eines 26-Jährigen aus Bonn geführt, gegen den gerade vor dem Landgericht Mannheim wegen des Betrugs mit den Ferienwohnungen verhandelt wird. Allerdings konnte ein anderer Verdächtiger inzwischen als "El Ano" dingfest gemacht werden.
"Man könnte also sagen, Sie haben die Unwahrheit gesagt", poltert der Jurist, der den Hauptangeklagten vertritt. Die Antwort wartet er nicht ab, sondern unterbricht den "Belastungszeugen" immer wieder und kommentiert dessen Angaben. Als er dann auch noch die Staatsanwältin abkanzelt, weist ihn der Vorsitzende Dr. Klaus Bergmann zurecht. Denn dieses Auftreten "entbehrt jeder seriösen Verteidigerarbeit". Selbst das lässt der Frankfurter Jurist nicht unwidersprochen: "Was seriös ist, kann ich selbst beurteilen." Und es wird nur zu deutlich, dass er die Ermittlungen des Bundeskriminalamtes nicht dazu zählt. Zumal sich nicht alle Vernehmungsprotokolle des 30-Jährigen in den Gießener Akten finden. Die Tatsache, dass sich die Identifizierung im Nachhinein als falsch erwiesen habe, sei den Verfahrensbeteiligten in Gießen ebenfalls nicht mitgeteilt worden. "Wenn nicht ein Kollege in dem Mannheimer Prozess drin wäre, hätten wir das nicht erfahren", schimpft Frank Richtberg. Obendrein ist zu erfahren, dass ein BKA-Mitarbeiter über die sozialen Medien mit dem Niederländer "geschrieben", diese Kontakte aber nicht schriftlich festgehalten hat.
"Mit Rechtsstaat hat das nichts mehr zu tun", ruft Gutsche dazwischen, als der Kriminalbeamte schildert, dass er dem 30-Jährigen "Links" zum Facebook-Account der Freundin des Hauptangeklagten geschickt habe. Er sollte überprüfen, ob er unter den "500 Freunden" jemanden erkennt. Auch dieses Ansinnen taucht nicht in den Unterlagen auf. "Das waren Umfeldermittlungen", erklärt der Beamte. Es habe sich nicht um konkrete Beschuldigte gehandelt, deshalb habe er keine Vermerke angefertigt. Den Chat mit dem Niederländer habe er mittlerweile gelöscht. "Ist es üblich, dass Sie die Kommunikation mit einem Angeklagten auf dem Handy eigenverantwortlich löschen?", hakt Richtberg nach. Und nimmt die Antwort sichtlich fassungslos zur Kenntnis: "Das hatte keine Relevanz für das Verfahren."
Eine Pizzabestellung hatte die Strafverfolger offenbar auf die Spur der Freundin des Hauptangeklagten gebracht. Und über ihre E-Mail-Adresse konnte eine Flugbuchung mit seiner Kreditkarte aufgespürt werden. Und aufschlussreich ist gegen Ende des langen Verhandlungstages die Gegenüberstellung der Fotos des falschen und des wohl echten "El Ano" auf der übergroßen Leinwand: Beide haben braune Haare und eine ähnliche Frisur. Der eine aber trägt ein Lippenpiercing sowie eine Brille und wirkt im Gesicht deutlich fülliger. Ähnlichkeit ist zwischen beiden durchaus vorhanden. Ein Verfahren wegen Falschbelastung wurde gegen den Niederländer nicht eingeleitet, bestätigt ein Kripobeamter. "Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen." Der Prozess wird fortgesetzt.