Ausstellung zum NSU-Terror an der Bensheimer...

Birgit Mair erläutert im Forum der Geschwister-Scholl-Schule die Hintergründe der NSU-Morde.   Foto: Sascha Lotz  Foto: Sascha Lotz
© Foto: Sascha Lotz

(tr/ü). Über die Täter ist vieles bekannt. Eine Wanderausstellung zeigt die andere Seite der rassistischen Anschlagserie, die Deutschland elf Jahre lang in Atem gehalten...

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BENSHEIM. (tr/ü). Über die Täter ist vieles bekannt. Eine Wanderausstellung zeigt die andere Seite der rassistischen Anschlagserie, die Deutschland elf Jahre lang in Atem gehalten hatte. Sie widmet sich den Opfern der NSU-Morde, die bislang eher im Schatten der Aufarbeitung standen. Am Mittwoch wurde die Dokumentation in Bensheim von der Frau vorgestellt, die sie konzeptionell entworfen hat.

Anlass für Birgit Mairs Besuch war der Gedenktag an der Geschwister-Scholl-Schule anlässlich der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl vor 74 Jahren. Im Forum erläuterte sie vor Oberstufenschülern in der Qualifikationsphase Q1 bis Q4 Hintergründe und Ziele ihrer Arbeit.

Im Mittelpunkt stehen die Opfer

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„Es ging mir um die Perspektive der Betroffenen“, so die Sozialwirtin, die bereits über die Opfer des Holocaust geforscht hatte. Im Herbst 2012, wenige Monate nachdem der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) und mit ihm die rassistischen Tatmotive aufgeflogen waren, begann sie ihre Recherchen. Vor allem im Kreise der Familien, Freunde und Kollegen der Ermordeten, deren Namen kaum einer kennt – und die von den Ermittlern jahrelang als Kriminelle dargestellt wurden.

Eine bösartige Denunziation, so Birgit Mair, die massive Fehler aufseiten von Behörden und Politik erkennt. Der Begriff „Döner-Morde“ kursierte. Die Polizei vermutete Bandenkriminalität mit Migrationshintergrund, suchte im türkischen und griechischen Umfeld nach organisierten Gruppen. Die Einheiten hießen „Halbmond“ und „Bosporus“. Sie beklagt: „Rassismus als Tatmotiv wurde völlig ausgeblendet.“ Die polizeilichen Ermittlungen seien durch Vorurteile geprägt gewesen. Sie spricht von einem „institutionellen Rassismus“.

Ohne Beweise hatte man den Mordopfern unterstellt, in schwerkriminelle Milieus verstrickt zu sein. Fallanalysen strotzten vor rassistischen Aussagen. Selbst nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn im April 2007 wurden Sinti und Roma als Täter verdächtigt. Die Tötung von Kiesewetter, nach den Ermittlungsergebnissen ebenfalls durch den NSU, erfolgte mit einer anderen Waffe und wird deshalb nicht der Mordserie zugerechnet.

Der schwierigste Teil der Ausstellung, so Mair, sei die Beschaffung von Fotomaterial gewesen, das die Opfer in ihrem Alltag zeige. Schnappschüsse aus dem Familienalbum, bei der Arbeit oder im Urlaub, die nichts mit den halbseidenen, grobkörnigen Bildern zu tun haben, die damals durch die Medien gegangen waren. Auf diese Weise wollte sie ein Stück Würde wiederherstellen. Sie sprach mit Ehefrauen, Müttern und Nachkommen. „Kein einziger war in irgendeiner Form kriminell oder in kriminelle Machenschaften verwickelt“, betont die Wissenschaftlerin.

Der hessische Blumenhändler Enver Simsek wurde im September 2000 in Nürnberg mit zwei Kopfschüssen ermordet. Im Juni 2001 wurde – ebenfalls in Nürnberg – Abdurrahim Özüdogru in seiner Schneiderei erschossen. Danach starben Süleyman Tasköprü in Hamburg, Habil Kiliç in München und Mehmet Turgut in Rostock. Der NSU tötete Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubasik. Der 21-jährige Kasseler Schüler Halit Yozgat war 2006 das jüngste Opfer.

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Zehn Tote. Von einem „kleinen Ermittlungsirrtum“ möchte Birgit Mair nicht sprechen. Zumal es mehrfach klare Täterbeschreibungen gegeben habe. „Es wurden viele Hinweise übersehen. Genau das macht es zum Skandal“, so die Ausstellungsmacherin in Bensheim.

Auch nach den beiden Bombenanschlägen in Köln 2001 und 2004 habe die Polizei gravierende Fehler gemacht. Bezüge zu einem rechtsradikal motivierten Fall in England wurden nicht gesehen, ein terroristischer Hintergrund vom Verfassungsschutz ausgeschlossen.

Mair sieht regelrecht ein Muster von ermittlungstaktischen Patzern: Bereits beim ersten NSU-Mord in Nürnberg habe man neonazistische Aktivitäten im Umfeld der Tat ignoriert. Die Behörden hätten viel zu lange nicht nach rechts geschaut. „Wenn man Beamte nach den Gründen hierfür gefragt hat, hat man zu hören bekommen, dass ein Bekennerschreiben fehle und man deshalb Neonazis als Täter ausschließen könne.“

Tatsache sei aber, dass sich Neonazis bei Kapitalverbrechen wie Brandanschlägen oder Morden auch in der Vergangenheit eher selten zu ihren Taten bekannt haben. Darüber hinaus stellt Mair das System der V-Leute („Verbindungspersonen“) in die Szene komplett in Frage: Es sei trotz der Drähte des Verfassungsschutzes in die braune Szene nicht gelungen, die Morde zu verhindern.