
„Ich will so nicht mehr leben.” Ein Darmstädter Schüler ist regelmäßigem Mobbing ausgesetzt – mit physischen und psychischen Folgen. Im Extremfall kann die Polizei tätig werden.
Darmstadt. „Ich will so einfach nicht mehr leben“, sagte Tim eines Abends mit Tränen in den Augen. Da war er 15 Jahre alt und weinte eigentlich schon lange nicht mehr vor anderen. Als seine Mutter Julia diesen Satz hörte und den Grund dafür, erlebte sie ein Wechselbad der Gefühle: Wut, Verzweiflung, Trauer und Hilflosigkeit. Der lebensmüde Gedanke ihres Sohnes machte sie fassungslos. Schuld daran war Mobbing in der Schule.
Jeder kann Mobbing-Opfer werden.
Tim heißt eigentlich anders, ebenso seine Mutter. Die beiden sollen anonym bleiben, und auch die Schule, an der all das passierte, soll hier nicht genannt werden. Nur so viel: Es ist ein Darmstädter Gymnasium. Ausdrücke wie „Du dummes Stück Scheiße“ oder „Du schwule Sau“ wurden begleitet von Schubsern und Kopfnüssen. Tim wurde zum Opfer, konnte nicht mehr schlafen und entwickelte eine Angststörung. „Wer einmal Mobbing-Opfer ist, der steht geschwächt da“, sagt Uwe Pfeiffer, Hauptkommissar bei der Polizei Südhessen und als zentraler Jugendkoordinator gut vertraut mit dem Thema Mobbing an Schulen. Doch Tim ist kein typisches Opfer; den typischen Gemobbten gibt es nämlich gar nicht. Sicher spielen Übergewicht, Körpermerkmale, Behinderungen, sozialer Status oder Anderssein manchmal eine Rolle, doch in vielen Fällen reicht es aus, einfach nur da zu sein. „Jedes Kind, jeder Jugendliche und auch jeder Erwachsene kann zum Opfer werden“, weiß Pfeiffer. Sowohl der vermeintlich Schwache als auch der Coole, der Nebenbuhler.
Doch wer sind die Täter? Aus allen sozialen Gefügen können sie kommen, allen Nationalitäten angehören, selbst unsportlich oder dick, zu klein oder zu groß sein. Auch ein vermeintlicher Musterschüler drangsaliert das eine oder andere Mal. „Sicher aber ist: Es ist nie der innerlich Starke, Selbstsichere. Der hat es gar nicht nötig, auf andere herabzuschauen“, berichtet Pfeiffer. „Es ist nie der Glückliche, der mit sich im Reinen ist. Vielmehr entsteht Mobbing aus einem Mangel heraus.“ Mit dem Peiniger Mitleid zu haben, ist dennoch unpassend. „Beim ersten und kleinsten Verdacht, muss der Gemobbte geschützt und es muss ihm geholfen werden“, beschwört Hubert Köhler, Schulpsychologe beim Staatlichen Schulamt und Berater von Schulen. Besonders die Pädagogen müssen sofort eingreifen, und Eltern – sobald sie die Qualen ihres Kindes bemerken – reagieren: „Das Wichtigste ist, dass Erwachsene den Kindern das Gefühl geben, in einem sicheren Hafen zu sein und ernst genommen zu werden.“
Respekt und Beschwerdekultur
Tims Lehrer hat sich die beiden Schüler – Täter und Opfer – geschnappt und sie gegenübergestellt. Julia erinnert sich: „Er hat Tim und mich mehrmals gefragt, ob unsere Anschuldigungen tatsächlich richtig sind.“ Und hat somit den Gepeinigten in Frage gestellt. Dann sollten sich Tim und der andere die Hand geben und sich vertragen. Das Opfer hat sich quasi entschuldigt. „Dabei sollten eher Regeln geschaffen werden, wie der Umgang miteinander in einer Klasse ist“, wünscht sich der Schulpsychologe. „Wichtig sind gegenseitiger Respekt und eine intakte Beschwerdekultur.“ Es müsse klare Linien geben, wie agiert wird, wenn Mobbing passiert. Entscheidend, so Köhler, sei die Rolle des Lehrers, der kleinste Hänseleien bereits unterbinden müsse. Bei Tim dagegen wurde mehr als einmal weggeschaut und -gehört. „Naja, er ist aber auch manchmal ein bisschen sonderbar“, mussten sich derweil die Eltern anhören. Als ob das Gemeinheiten und Schikanen rechtfertigen könnte.
Der Akteur braucht ein Umfeld, also diejenigen, die sein Verhalten dulden.

Der Mobber indes ist weiter erstarkt. Möglich gemacht haben das auch all jene, die tatenlos zugesehen und das Verhalten toleriert haben. Sie tragen ebenfalls eine Schuld. „Der Akteur braucht ein Umfeld, also diejenigen, die das Mobbing beobachten, es mittragen und es somit dulden“, mahnt Pfeiffer. Zivilcourage ist – selbst in Klassenzimmern - dringend benötigt, und es braucht Empathie von Zuschauern, die nicht passiv bleiben dürfen. Denn ein Opfer trägt die seelischen Narben meist ein Leben lang mit sich herum: körperliche Beschwerden wie Magen-Darm-Erkrankungen und Kopfschmerzen sowie psychische Leiden wie Schlaf- oder Angststörungen, Depressionen bis hin zum Suizid. Auch Tim hat daran gedacht.
Ein Schulwechsel ist Kapitulation
Besorgte Eltern sehen oftmals keinen anderen Weg als einen Schulwechsel, doch letztendlich ist das natürlich auch eine Art Kapitulation, ein Davonlaufen und ein Sieg für den, der sich in Überlegenheit wähnt. „Besser ist es, das Problem an der Schule zu lösen und dem Geschädigten die Möglichkeit zu geben, noch gute Erfahrungen zu machen und selbst aus der Situation herauszukommen“, rät Köhler. Mit Unterstützung aller zur Verfügung stehenden Personen selbstverständlich: Lehrerinnen und Lehrern, der Schulsozialarbeit, Eltern und nicht zuletzt der Klassengemeinschaft. Ohne die geht es langfristig nicht, denn nach Schulschluss hört Bösartigkeit ja nicht einfach auf.
Ein Schulfach namens Empathie wäre eine schöne Sache. Nicht nur für die Opfer übrigens, denn Mobben ist mitnichten ein Kavaliersdelikt; so wie generell keine einzige Handlung, die Opfer fordert. „Wenn also jemand Schimpfwörter benutzt und Personen verbal angreift, dann erfüllt das genau genommen den Straftatbestand der Beleidigung nach § 185 des Strafgesetzbuches“, erklärt Polizist Pfeiffer. Schubsen wäre bereits ein Körperversetzungsdelikt und das Verstecken des Federmäppchens im Müll Diebstahl. Anzeigen wegen Beleidigung, übler Nachrede, Verleumdung, Nachstellung, Nötigung, Erpressung oder Bedrohung wären tagtäglich für die Leidtragenden eine Option.
Doch würde Mobbing dadurch nicht unbedingt beendet werden, sagt Pfeiffer. „Aber manchmal sind die Maßnahmen sinnvoll, um Grenzen aufzuzeigen.“ Richtig helfen im Kampf gegen Mobbing kann nur Mut und Zivilcourage. Die ist nicht immer einfach zu zeigen – besonders nicht für Heranwachsende. Aber alles andere ist inakzeptabel. Tim hat derweil kapituliert und die Schule gewechselt.