Depression gilt als Volkskrankheit, die auch vor der Jugend nicht Halt macht. Dr. Susanne Hosenfeld, Psychiaterin in den Darmstädter Kinderkliniken, weiß um das Krankheitsbild.
Darmstadt. Wer einen Teenager zu Hause hat, kennt sich mit Stimmungsschwankungen meist gut aus. Das dachte auch Sandra. Ihr richtiger Name soll hier – wie der Name aller Betroffener – nicht genannt werden, um die Familien zu schützen. Die Darmstädterin hat drei Kinder. Niklas ist der Jüngste. Mit 12 Jahren wurde er schwierig. Er rastete oft aus, um dann kurz darauf zusammenzubrechen und zu zweifeln. „Wir haben das erst einmal auf die Pubertät geschoben, aber als er sich dann immer mehr zurückzog und nicht mehr in die Schule gehen wollte, stellte sich heraus, dass mehr dahintersteckte.“
Meine leichte Depression fühlte sich ganz schön schwer an.
Eine Depression war es, wenn auch eine leichte. Fragt man den inzwischen 14-Jährigen heute, sagt er, dass sich seine „leichte“ Depression ganz schön schwer anfühlte. Bei Elena kamen die depressiven Phasen erst mit 16. Sie hat eine kleine Schwester mit einer Behinderung. Immer wollte sie die Vernünftige sein, der Fels in der Brandung in dem oft stressigen Familienalltag. Und sie war es gern. Heute – ein Jahr und eine Therapie später – weiß sie, dass sie auf diesem Weg ein bisschen auf der Strecke geblieben ist und unter Depressionen leidet. Ihre Mutter Anja macht sich große Vorwürfe: „Mein ehemals so stark wirkendes Kind war plötzlich kraftlos, schaffte es kaum noch aufzustehen, traf keine Freundinnen mehr. Meist war sie ganz freudlos und dann wieder total kratzbürstig.“
Die Grenzen verschwimmen schnell. Ist das noch pubertäres „Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt“ oder ist es bereits die Krankheit Depression? „Wenn die Teilhabe am Alltag über mehrere Wochen reduziert ist, Kinder sich sozial zurückziehen, Hobbys vernachlässigen, nicht mehr in die Schule gehen und nur noch traurig sind, dann geht das über das normale pubertäre Maß hinaus“, sagt Dr. Susanne Hosenfeld, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Kinderkliniken Prinzessin Margaret und Ärztliche Leiterin der Psychosomatik.
Bereits ein Prozent der Vorschulkinder soll Depressionen aufweisen. Mit zunehmendem Alter steigen die Zahlen. Im Jugendalter sind sie besonders häufig. Die Deutsche Depressionshilfe geht von bis zu zehn Prozent der 12- bis 17-Jährigen aus, die betroffen sind. Noch vor 20 Jahren als phlegmatisch, melancholisch oder reizbar abgestempelt, erkennt man heutzutage deutlich besser, wenn ein Mensch unter Depressionen leidet. Doch steigen laut Hosenfeld auch die Risikofaktoren durch Leistungsanforderungen der Gesellschaft, durch Belastungen und mangelnde Unterstützung innerhalb der Familie. Mobbing, soziale Medien oder Pandemien tun ihr Übriges.
Aber nicht immer ist irgendjemand oder irgendetwas schuld, so die Psychiaterin: „Die Genetik spielt eine ganz große Rolle. Wenn bereits Eltern oder Großeltern depressiv sind, dann gibt es ein höheres Risiko, beispielsweise unter Belastungen eine Depression zu entwickeln.“ Eine Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn ist verantwortlich für diese Erkrankung der Psyche: In Studien wurde mithilfe der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) festgestellt, dass der Stoffwechsel der Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin wie auch Adrenalin und Dopamin entgleist ist.
Manchmal ist eine Medikation eine sinnvolle Ergänzung.
Ein „Jetzt reiß Dich mal zusammen!“, Vorhaltungen oder Druck auf den Erkrankten helfen im Akutfall wenig. Hosenfeld rät stattdessen zu „liebevollem Drängeln“ und zu einem geregelten Tagesrhythmus. Jeden Morgen überhaupt aufzustehen ist oft schon eine Herausforderung und ein Kraftakt; ein Gang in die Schule häufig unmöglich: „Viele können sich nicht mehr konzentrieren und dem Geschehen nicht mehr folgen.“ Zwar sei man mit Medikationen gerade bei Kindern und Jugendlichen sehr vorsichtig, aber ein Antidepressivum hält die Ärztin mitunter für unerlässlich: „Manchmal sind schwer Depressive kaum einer Therapie zugänglich, und dann ist die Medikation eine sinnvolle Ergänzung.“ Angst, die Persönlichkeit könne sich verändern, müssten Patienten nicht haben. Auch besteht keine Gefahr von Abhängigkeit bei diesen Antidepressiva der neuen Generation. Dennoch: „Die Medikamente – in der Regel Serotoninwiederaufnahmehemmer – ersetzen keine Psychotherapie, aber sie unterstützen.“
Einen Therapieplatz zu finden, ist jedoch nicht einfach. Lange Wartelisten sind die Regel. „Manchmal wussten wir nicht, wie wir den Tag überstehen sollen“, erinnert sich Elenas Mutter an depressive Phasen ihrer Tochter. Hosenfeld rät in solchen Fällen, den Kinder- oder Hausarzt aufzusuchen. Auch die Erziehungsberatung der Stadt oder Schulpsychologen können vorübergehend unterstützen. Und einige Krankenkassen bieten niederschwellig Online-Kurse an. Will das Kind gar keine Hilfe in Anspruch nehmen, empfiehlt die Psychiaterin: „Seien Sie selbst Vorbild und sorgen Sie für sich. Gehen Sie selbst zur Beratung und berichten dem Kind.“
Depressive Menschen lösen bei anderen oft Wut aus.
Es braucht die gute alte Selbstfürsorge, um durch Krisen wie auch diese zu kommen. Die Kinder machen es den Eltern dabei nicht immer leicht. „Niklas war gegen alles, immer aufbrausend und wirkte richtig egoistisch. Er drehte sich nur noch um sich selbst“, erzählt seine Mutter. Auch das kann Dr. Hosenfeld bestätigen: „Depressive Menschen lösen bei anderen sehr oft Wut aus.“ Der sollte man bestenfalls mit Geduld begegnen. Sofortiges Handeln ist erforderlich, wenn ein Jugendlicher suizidal ist und möglicherweise schon konkrete Pläne hat, wie eine Selbsttötung aussehen könnte. Den alleinigen Gedanken, so nicht mehr leben zu wollen, hätten jedoch viele junge Menschen. Die Ärztin empfiehlt, nicht davor zurückzuschrecken, diese Gedanken direkt anzusprechen. Häufig werde das nämlich als Entlastung empfunden.
Elena hat diese Gedanken auch hin und wieder, doch durch ihre Therapie lernt sie, wie sie ihnen begegnen kann. Bei einer Veranlagung könnten Depressionen immer wiederkehren, sagt Hosenfeld, aber – so Elena: „Ich versuche zu lernen, wie ich mit ihnen umgehe.“