Thilo Figaj mit den vier Stolpersteinen, die bislang nicht in Lorsch verlegt werden konnten – „aus Bockigkeit“ Foto: Karl-Heinz Köppner
( Foto: Karl-Heinz Köppner)
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LORSCH - Seit Jahren bemüht sich der Heimathistoriker Thilo Figaj um die Erforschung von Leben und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung von Lorsch. Eine Monografie dazu ist in Arbeit, ebenso eine Biografie von Heinz Jost, einem herausragenden Täter der NS-Zeit aus Lorsch. Der von Figaj konzipierte lokale Teil der Ausstellung „Legalisierter Raub“ in Lorsch sorgt für Gesprächsstoff.
Herr Figaj, sind Sie ein Provokateur?
Thilo Figaj: Nein, ich bin ein Faktensucher.
Sie suchen unter anderem nach Fakten über die Zeit von 1933 bis 1945 in Lorsch. Auch dort scheint sie nicht recht bewältigt zu sein. Sonst hätte eine betont nüchtern aufgezogene Ausstellung nicht solche Wellen geschlagen.
Es ist ja nicht so, dass die Kern-Ausstellung für Unruhe gesorgt hätte. Der regionale Teil der Schau ist der am besten besuchte, weil dort Anknüpfungspunkte an Lorsch gesucht und gefunden werden.
Für Diskussionen hat vor allem ein Exponat gesorgt: ein aus Trümmerstücken der Lorscher Synagogenausstattung gebastelter Davidstern. Dessen vormaliger Besitzer Walter Glanzner ist damit unversehens in den Mittelpunkt gerückt. Kommt er posthum aus dieser Geschichte wieder heil heraus?
Thilo Figaj mit den vier Stolpersteinen, die bislang nicht in Lorsch verlegt werden konnten – „aus Bockigkeit“ Foto: Karl-Heinz Köppner Foto: Karl-Heinz Köppner
Die Postkarte zeigt die zur Bahnhofstraße gelegene Fassade der Lorscher Synagoge. In der Nacht auf den 10. November wurde das Gebäude niedergebrannt. Repro: Lutz Igiel Foto:
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Zunächst halte ich die Geschichte, die 1982 der Heimat- und Kulturvereinsvorsitzende Paul Schnitzer und 1985 Glanzner selbst von der Bergung der Trümmer erzählt hatte, für konstruiert: dass der damals 15-jährige Walter Glanzner im November 1938 im Schutt der Synagoge Teile der Thora-Bekleidung gefunden habe; erst als Erwachsener sei ihm bewusst geworden, um was es sich handelt. Gezeigt wurden die Stücke erst nach vielen Jahren und dann nur in Auswahl.
Was aber ist die wahre Geschichte? Wer hat den Stern gefertigt und mit welcher Absicht?
Das steht nicht hundertprozentig fest. Ich glaube nicht, dass Walter Glanzner die Teile gefunden hat. Er war der Sohn des Bürgermeistersekretärs Justus Glanzner, der dafür verantwortlich war, das Synagogengelände nach dem Brand zu sichern. Eher hat also der Vater die Teile gefunden.
THILO FIGAJ
Thilo Figaj wurde 1956 in der Nähe von Osnabrück geboren. In den 1980er Jahren erwarb der gelernte Kaufmann gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder das Bensheimer Unternehmen Lady Esther Kosmetik. Einen Namen machte er sich auch als Kommunalpolitiker.
In seiner Wahlheimatstadt sorgt der verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder seit Jahren für die inhaltliche Auskleidung des Pogromgedenkens am 9. November. Er hat den Lorscher Teil der aktuellen Ausstellung zur Verfolgung der Juden konzipiert. (cris)
Und daraus den Stern gefertigt?
Justus Glanzner starb 1971. Erst danach, vermute ich, hatte Walter Glanzner die Verfügungsgewalt über die Fundstücke. Mit Sicherheit hat er den Stern geschnitzt und die Teile darauf montiert. Es handelt sich um ein persönliches Erinnerungsstück. Mit welcher Motivation er es gefertigt hat, kann ich nicht beurteilen.
Der von ihnen verwendete Begriff „Nazi-Trophäe“ hat manche aus seinem Umfeld getroffen.
Der Begriff passt nur für die aus dem Synagogenschutt geborgenen Teile und auch nur für die Zeit 1938 und unmittelbar danach. Das sogenannte Kunstwerk für sich gesehen ist keine Nazi-Trophäe, es ist viel später entstanden. Mir wurde glaubhaft versichert, dass es nicht vor einem antisemitischen Hintergrund geschaffen wurde. Vielleicht war es eine Aufarbeitung der NS-Zeit.
Sie erwähnten Paul Schnitzer, den Nestor der Lorscher Lokalgeschichte. Wie hat er es mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in Lorsch gehalten?
Persönlich habe ich ihn nie kennengelernt. Nach Studium seiner Schriften und seines Wirkens kann ich sagen, dass er mit der NS-Zeit so umgegangen ist wie viele seiner Zeitgenossen: überhaupt nicht. Er hat sich mit den freundlichen Aspekten der Lorscher Geschichte befasst. Dabei hatte er umfangreiche Kenntnisse davon, was zwischen 1933 und 1945 in Lorsch geschehen war. Die einschlägigen Akten waren nicht für jedermann zugänglich, ja, man kann sagen: Sie waren weggeschlossen.
Glanzner und Schnitzer waren herausragende Repräsentanten des Heimatvereins, dessen Vorstand Sie angehören. Hat der Verein nach 1945 seine ureigene Aufgabe erfüllt: zu erforschen, wie es eigentlich gewesen ist?
Der erste Vorsitzende des nach dem Krieg neugegründeten Vereins war Bürgermeister Georg Werner. Und der steht nicht für Aufklärung des Lorscher Nationalsozialismus’. Das geht unter anderem aus den Bescheiden aus dem Rathaus hervor, die zu Wiedergutmachungsverfahren für Juden verschickt wurden. Werner tat so, als könne man sich kaum erinnern, dass je Juden in Lorsch gelebt hatten.
Wurde es später besser?
Nicht unter Paul Schnitzer, auch wenn er 1978 eine erste große Ausstellung zu den Lorscher Juden gemacht hat, allerdings ohne sinnstiftende Erklärungen. Immerhin ist zum Beispiel die Rechnung für den Abriss der Synagoge gezeigt worden, völlig ausgeblendet wurden die Ereignisse von einst also nicht. Aber erst die Autoren des 2009 erschienenen Buchs „Zwischen den Zeiten“ haben sich um eine umfassende Aufarbeitung bemüht.
Was hielt auch die Nachgeborenen davon ab, sich dieser Epoche zu stellen?
Das Beschweigen und Verdrängen war kein Lorscher Spezifikum, sondern ein deutsches Phänomen. Konrad Adenauer hat den Begriff der „Kriegsverurteilten“ in der öffentlichen Diskussion verwendet, als es um Kriegsverbrecher ging. Die Presse hat das kritiklos multipliziert, und die Täter haben das Wort gern aufgenommen, um sich zu Opfern einer „Siegerjustiz“ zu machen. Mit Heinz Jost hatten wir in Lorsch einen der großen „Kriegsverurteilten“, er nannte sich selber so. Wer Licht in das Geschehene bringen konnte, hatte Schwierigkeiten, sich diesem Zeitgeist entgegenzustellen. Hinzu kam, dass die Heimatvertriebenen noch Jahrzehnte nach dem Krieg enormen Einfluss hatten. Zum Vergessen-Wollen kam der Wille, von der Täter- in die Opferrolle zu wechseln.
Von wegen Vergessen-Wollen. In Lorsch gibt es immerhin seit 1982 eine Gedenkstätte für die zerstörte Synagoge und seit Jahren eine intensive Gedenkstunde am 9. November.
Das Gesagte gilt in erster Linie für die ersten 40 der vergangenen 80 Jahre. 1978 war ein Wendejahr. 40 Jahre nach der Pogromnacht wurden die Ereignisse gründlicher als bislang erforscht und gewertet, in Lorsch zuerst vom Lehrer Jochen Franke. Die Gedenkstätte wurde in der Schulstraße eingerichtet, weil es nicht möglich war, eine Gedenktafel am früheren Standort der Synagoge anzubringen. Der Eigentümer des Hauses Bahnhofstraße 10, der nicht aus Lorsch kam, war dagegen.
Für das Nachbarhaus, Bahnhofstraße 8, waren vier Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Bewohner vorgesehen, die vor zwei Wochen hätten verlegt werden sollen. Warum ist das nicht geschehen?
Der Magistrat der Stadt Lorsch hat die Verlegung von Stolpersteinen genehmigt mit der Maßgabe, ein Einverständnis mit den jeweiligen Hausbesitzern herbeizuführen. Das versuchen wir, in der Bahnhofstraße 8 ist es bis jetzt zu unserer Überraschung nicht gelungen.
Woran liegt es?
Es geht um Bockigkeit.
Ihre Forschungen haben ergeben, dass der Terror ab 1933 auch in Lorsch überwiegend hausgemacht war. Bislang hieß es, das stabile katholische Milieu habe immunisierend gewirkt.
Wahr ist, dass das Zentrum bis zu seiner Auflösung mit Abstand stärkste Kraft in Lorsch war. Seit Ende der 1920er Jahre ging aber ein Riss durch die Lorscher Gemeinde. Die Situation eskalierte bei der Beerdigung von Erich Jost, für die Adolf Hitler nach Lorsch kam. Pfarrer Heinrich Heinstadt hielt die Nationalsozialisten von der Feier fern, diese beschwerten sich beim Bischof und sogar beim Papst.
Ohne Erfolg?
Nur das Bistum Mainz hatte damals die Devise ausgegeben, dass ein Katholik kein Nationalsozialist sein kann und dass Nationalsozialisten in Uniform von den Sakramenten ausgeschlossen werden. Auch Heinstadt wurde in seiner Haltung bestärkt. Aber die Folgen waren dramatisch in einer katholischen Gemeinde. Es gab Zerwürfnisse innerhalb von Familien und auch Selbstmorde.
Aber die Mehrheit blieb katholisch.
Ja, aber die Minderheit war entscheidend. In Lorsch gaben gerade die Honoratioren ein Beispiel. Sie gründeten und führten die nationalsozialistische Partei.
Deren Nachfahren leben in Lorsch. Bekommen Sie von ihnen Rückmeldungen?
Nein. Ich erfahre aber von vielen Mitbürgern Zustimmung, jeden Tag erreichen mich Briefe.